Für einen Fortschritt in Sachen Wahrheitsfindung im NSU-Prozess entwickeln sich lügende Zeugen seit Beginn der Verhandlungen zu einem immer größer werdenden Problem. Es ist mehr als offensichtlich, dass Handlungsbedarf besteht, jedoch scheint von keiner Seite der Prozessbeteiligten ein gesteigertes Interesse zu bestehen, diesem Problem Herr zu werden.
Hier zum 1. Teil dieser Mini-Serie mit einem aktuellen Wortprotokoll aus der Vernehmung von Markus F. vom 198. Verhandlungstag. >>
Das Ausmaß der Lügen ist der Öffentlichkeit nicht mehr vermittelbar.
Nach jedem lügenden Zeugen, der ohne Konsequenzen zu spüren davon kommt, wird die Berichterstattung schwieriger. Ganz egal welche Zeugen, ob aus der Nazi-Szene, aus dem Dunstkreis des Verfassungsschutzes oder aus sonst irgendeiner Gruppe. Der Öffentlichkeit sind diese Vorkommnisse nicht mehr zu vermitteln.
Wir müssen handeln! Jetzt!
Das Resultat: Das Interesse der Öffentlichkeit am NSU-Prozess nimmt mehr und mehr ab und dürfte sich derzeit auf einem negativen Rekordniveau befinden. Das ist eine Katastrophe, die wir bewältigen müssen, ja vielleicht sogar noch abwenden können. Lasst uns zusammen daran arbeiten. Presse, Blogger, Prozessbeobachter und Prozessbeteiligte müssen jetzt an einem Strang ziehen, um die Glaubwürdigkeit im NSU-Prozess wieder herzustellen.
Und so wird im NSU-Prozess gelogen: Subtil, dreist, hemmungslos, schamlos und immer mit dem Hintergrund Rassismus.
Hier eine sehr kleine – ungeordnete – Zusammenstellung (6 von knapp 200 Verhandlungstagen) mit Beispielen von lügenden Zeugen im NSU-Prozess:
Gleich zu Beginn ein eindrucksvolles Beispiel dafür, was passieren kann, wenn die Nebenklage die Lügen der Nazi-Zeugen nicht einfach hinnehmen will.
Carsten R. (36) ist wieder einer dieser unerträglichen Zeugen. Man könnte meinen, er wäre ein kleiner Fisch im undurchdringlichen NSU-Sumpf. Carsten R. hat 1998 unter seinem Namen eine Wohnung in Chemnitz für die untergetauchten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe angemietet. Deswegen wird er am 19. März 2014 vor dem OLG-München im NSU-Prozess als Zeuge vernommen. […]
Gefühlte 99 % seiner Antworten bestehen aus diesen Floskeln:
“Weiß ich nicht mehr.”
“Ist schon zu lange her.”
“Kann mich nicht mehr erinnern.”
Seine seltenen Antworten, die inhaltlich auf die Frage eingehen, beendet Carsten R. meistens mit einem Nachsatz wie diesem hier: “… kann ich aber nicht genau sagen.”
So läuft die Befragung Stunde um Stunde. Trotzdem ging der Plan von Carsten R. durch geballtes Unwissen, nichtssagenden Antworten und beinharten Lügen möglichst wenig zu einem Erkenntnisgewinn beizutragen nicht ganz auf.
Auf die Frage des Vorsitzenden Richter Götzl warum ausgerechnet er als Wohnungsmieter für die bereits untergetauchten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe auftreten sollte antwortete Carsten R. in typischer Art und Weise.
Götzl: “Jetzt erzählen Sie doch mal von vorne und der Reihe nach.”
Carsten R.: “Hab ich ja. Die Wohnung wurde eben angemietet.”
Ein Kommentar zur psychischen Verfassung von Götzl erübrigt sich an dieser Stelle.
Götzl: “Mit Personen! Bitte!”
Carsten R.: “Kann mich nicht erinnern. Das habe ich auch bei der Polizei schon gesagt.”
RA Hoffmann: “Haben Sie sich 2011 (Anm.: Am 04.11.2011 wurden Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe enttarnt.) bei der Polizei gemeldet?”
Carsten R.: “Nein.”
RA Hoffmann: “Warum nicht?”
Carsten R.: “Bei mir ging es ja um die Wohnung. Und bei denen um Tötung.”
Das Fragerecht hat nun RAin Pinar: “Ist Ihr ‘Egal sein’ eigentlich grenzenlos?”
Carsten R.: “Ja. Ich hab nicht differenziert, ob die Schokoriegel klauen, oder gerade jemanden umgebracht haben.”
RAin Pinar: “Wie waren Ihre Gedanken, als Sie erfuhren, dass “die 3″ Menschen umgebracht haben?”
Genau an dieser, dieser entscheidenden Stelle, an der die wirkliche Gesinnung des Zeugen ans Licht kommt, grätscht GBA Diemer mitten in die Befragung hinein. Wie immer in solchen Fällen ohne Worterteilung.
Diemer: “Ich beanstande die Frage …”
Diemer wird durch RAin Pinar unterbrochen, schließlich hat sie immer noch das Fragerecht. Sie hat weder erklärt, dass sie keine weiteren Fragen mehr hätte, noch hat irgendjemand GBA Diemer das Wort erteilt.
RAin Pinar: “Ich möchte hier nur auf eine Grundsatzentscheidung zur Beugehaft …”
Bei dem Wort “Beugehaft” wird RAin Pinar das Mikrofon abgedreht. Jedoch ist sie auch ohne Mikrofon zumindest auf der Besuchertribüne noch einigermaßen gut zu verstehen. “Ich lasse mir hier nicht von Ihnen den Mund verbieten.”
Götzl mischt sich nun auch ein: “Frau Anwältin! Bitte mäßigen Sie sich. Das Wort hat jetzt Dr. Diemer. Bitteschön, Herr Diemer! Sie sind dran.”
Aus den Reihen der Nebenklage sind überdeutlich Unmutsbekundungen ob der Entscheidung Götzls vernehmbar.
Götzl versucht den Tumult im Gerichtssaal, der sich auch auf die Tribüne ausgebreitet hat zu ignorieren: “Also bitte Herr Diemer …”
Diemer: “Ich beanstande die Frage. Die Frage hat nichts mit der Sache zu tun. Wir sind hier nicht das Jüngste Gericht, es ist nicht Aufgabe des Zeugen, sich für Einstellungen zu rechtfertigen, sondern Wahrnehmungen zu bekunden.”
Götzl: “Wenn Sie hier so weiter fragen, dann …”
RAin Pinar unterbricht Götzl: “Die Gesinnung dieses Zeugen ist mir wurscht.” (sic!)
Jetzt mischt sich RA Hoffmann in die inzwischen völlig außer Kontrolle geratene Diskussion ein: “Dieser Zeuge hier lügt den ganzen Nachmittag und die Bundesanwaltschaft unterstützt das auch noch.”
Götzl: “Ich lasse mich nicht unterbrechen …”
RAin Pinar: (An Götzl gerichtet.) “Dann sagen Sie doch endlich, was Sie sagen wollen.”
Götzl: “Ich habe Ihnen nicht das Wort erteilt. So! Und damit sich die Prozessbeteiligten wieder sortieren können und zur Besinnung kommen, unterbreche ich jetzt die Verhandlung für 10 Minuten.”
Er knallt einen Aktenordner auf das Pult, und verlässt um 17:20 Uhr ohne ein weiteres Wort zu verlieren den Gerichtssaal.
Eine angeordnete Verhandlungspause von 10 Minuten dauert im OLG-München 20 Minuten. Das war schon immer so, das wird immer so bleiben. In Bayern gehen die Uhren eben anders.
Um 17:40 Uhr erteilt Richter Götzl RAin Pinar das Wort.
RAin Pinar: “Bevor ich unterbrochen werde, stelle ich fest, dass eine Befragung des Zeugen nicht mehr sinnvoll ist. Ich stelle hiermit alle Fragen zurück.”
Die nächste Wortmeldung kommt von RA Kienzle: “Wir möchten uns zur Bemerkung von GBA Diemer zum “Jüngsten Gericht” äußern. Deswegen werden wir alle auf unser Fragerecht verzichten. Dem Zeugen ist überdeutlich klar geworden, dass sein Verhalten von der Bundesanwaltschaft hingenommen wird.”
Richter Götzl versucht noch zu retten, was zu retten ist: “Wir müssen jetzt mit der Befragung des Zeugen fortfahren.”
RA Kienzle: “Wir haben jetzt die Situation, dass die Beanstandung Diemers weiter im Raum steht. Stichwort: ‘Jüngstes Gericht’.”
Götzl: “Die Befragung des Zeugen steht im Vordergrund.”
RA Kienzle: “Das sehe ich anders. Hier steht ausgesprochen im Raum, dass Nebenkläger Fragen im Stil des “Jüngsten Gerichts” stellen.
[…]
RA Stahl: “Also mit wem haben Sie sich als Pärchen ausgegeben? Mit Frau Zschäpe?”
Carsten R.: “Das ist eine reine Vermutung von mir. Bei der Wohnungsübergabe eben. Wissen tu ich es nicht.”
RA Stahl: “Können Sie Böhnhardt und Mundlos unterscheiden?”
Carsten R.: “Nein.”
RA Stahl: “Und jetzt sag ich Ihnen noch was: Vermutlich hat Böhnhardt als Bürge auf dem Mietvertrag unterzeichnet.”
(Absolute Stille im Saal!)
Carsten R. antwortet unbeeindruckt. Dass er gerade überführt wurde, seit Stunden gelogen zu haben, lässt in anscheinend völlig kalt.
Carsten R.: “Kann sein …”
RA Stahl: “Keine weiteren Fragen mehr.”
Auf die Wiedergabe der weiteren Befragung kann getrost verzichtet werden. Carsten R. bleibt hartnäckig bei seinem Antwortverhalten.
Nach fast 5 Stunden grotesker Befragung nimmt um 18:15 das Trauerspiel mit der Entlassung des Zeugen sein Ende.
Fazit der Vernehmung: Es sind immens viele Fragen offengeblieben. Carsten R. weiß definitiv mehr, als er vorgibt zu wissen. Er hat Stunde um Stunde beinhart gelogen. Dies wurde ihm beispielsweise beim Themenkomplex Wohnungsbesichtigung und Mietvertrag eindrucksvoll nachgewiesen. Seine Aussagen, dass er mit Beate Zschäpe als Pärchen auftrat und das Zschäpe die Mitunterzeichnerin des Mietvertrages war, wiederholte er mehrmals. Beide Aussagen waren glatte Lügen, die völlig ohne Konsequenzen blieben.
Eine weitere Einvernahme des Zeugen wäre dringend geboten gewesen. Aber nur unter anderen Voraussetzungen wäre sie auch sinnvoll gewesen. Das Problem ist wieder einmal die Bundesanwaltschaft. Eine Bundesanwaltschaft, die wenig Interesse an einem zusätzlichen Erkenntnisgewinn hat, ist zu kritisieren. Eine Bundesanwaltschaft, die aktiv die Bemühungen zur Aufklärung verhindert, ist inakzeptabel, unzumutbar, eine Verhöhnung aller Opfer, ein Schlag ins Gesicht der Hinterbliebenen und unterstützt direkt den Rechtsextremismus. Zum kompletten Artikel >>
Lügen und Verharmlosen, Teil XII – weitere Vernehmung von Michael Probst
So leugnete er sogar, den Angeklagten André Eminger gekannt zu haben – und das, obwohl seine Ex-Frau bei der Polizei noch von konkreten Geschäftsbeziehungen Emingers zu Probst berichtet hatte und obwohl seine Telefonnummer im Handy-Speicher von Eminger gefunden wurde. Jedenfalls ist die Aussage des Zeugen nicht geeignet, die Angaben des V-Mannes Carsten Szczepanski zu den Unterstützungshandlungen von „B&H“ Sachsen und seiner Exfrau in Frage zu stellen. Nach seiner Zeugenaussage hätte er jedenfalls keine Kenntnis von solchen Unterstützungshandlungen haben können. Dass Szczepanski ihn als „B&H“-Mitglied bezeichnet, kann auch an seiner hervorgehobenen Position als Musikproduzent, Ladenbetreiber, Bandmitglied, Ehemann von Antje Probst und engem Freund von Jan Werner gelegen haben.
Thomas Gerlach ist einer der aktivsten Neonazis aus Thüringen. Er leugnet seine ultrarechte Einstellung nicht, sondern er schildert sein krudes Weltbild in geradezu unerträglicher Art und Weise. Gerlach war unter anderem Mitglied beim Thüringer Heimatschutz (THS), also der Organisation aus der vermutlich der NSU hervorgegangen ist. Zudem werden Gerlach engste Verbindungen zu den rechtsextremen und gewaltbereiten Hammerskins nachgesagt. Er sagt am 10.07.2014 bereits zum 2. Mal aus. Seine 1. Vernehmung am 01.07.2014 wurde vom Vorsitzenden Richter Manfred Götzl abrupt unterbrochen.
Hier ein Auszug aus der Befragung vom 10. Juli 2014 vor dem OLG München:
RA Scharmer: „Erkennen Sie jemanden?“
Gerlach: „Ja. Wohlleben.“
Das nächste Foto: Ein Gruppenbild. Alle Personen posieren mit vor dem Oberkörper gekreuzten Armen.
RA Scharmer: „Und ..?“
Gerlach: „Sag ich nichts.“
RA Scharmer: „Wer darf dieses Symbol machen?“
Gerlach: „Möchte ich nichts dazu sagen.“
RA Scharmer: „Ist Wohlleben dabei?“
Gerlach: „Sag ich nichts.“
RA Scharmer: „Eminger?“
Gerlach: „Sag ich nichts.“
RA Scharmer: „Was ist ‘NOM’? ‘National Officers Meeting’?“
Gerlach: „Sag ich nichts.“
RA Scharmer: „2011?“
Gerlach: „Sag ich nichts.“
RA Scharmer: „Wer darf da hin?“
Gerlach: „Sag ich nichts.“
RA Scharmer: „Welche Hammerskin-Gruppen gibt es?“
Gerlach: „Sag ich nichts.“
RA Scharmer: „Wer ist verantwortlich?“
Gerlach: „Sag ich nichts.“
[…]
RA Scharmer: „…“ (Wird von Gerlach unterbrochen.)
Gerlach: „Können Sie die Fragen nicht hintereinanderstellen? Dann brauch ich nur einmal zu antworten.“
Die Gesichtsfarbe von Richter Götzl wechselt nach dieser Frechheit in ein bedrohlich wirkendes dunkelrot: „Jetzt werden Sie mal nicht unverschämt!“ Die Wände des Gerichtssaals scheinen zu beben.
RA Scharmer bleibt unbeeindruckt und macht weiter: „Sagt Ihnen der Begriff ‘Fourteen Words’ etwas?“
[…]
Gerlach ist der erste Zeuge aus der Naziszene, der aus seiner Gesinnung keinen Hehl machte. Er hat es geschafft, minutenlang über den drohenden Volkstod zu schwadronieren. Er konnte sogar ausführlichst seine extrem rassistischen „Lösungsansätze“ zur Verhinderung des Volkstodes darlegen. Niemand hat ihn dabei unterbrochen. Gerlach verhielt sich den Verfahrensbeteiligten und sogar dem Gericht gegenüber extrem respektlos. Eingegriffen hat niemand. Anwälte der Nebenklage werden vom Vorsitzenden Richter Götzl regelmäßig bloßgestellt, gemaßregelt und „zusammengefaltet“, wenn Sie beispielsweise nicht sofort die korrekte Fundstelle einer Akte benennen können.
Gerlach dagegen wurde mit Milde behandelt, er wurde geradezu verhätschelt. Zum kompletten Artikel >>
Wie Carsten R. ist auch Thomas R. einer dieser extrem unangenehmen Zeugen aus dem unüberschaubaren Unterstützernetzwerk des so genannten NSU.
Thomas R. soll Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe nach ihrem Untertauchen im Jahr 1998 für ungefähr 14 Tage in seiner Wohnung im sächsischen Chemnitz aufgenommen haben. Auch war Thomas R. in der rechtsextremen Szene zumindest zu Beginn der neunziger Jahre höchst aktiv. Vor allem als Mitveranstalter rechtsradikaler Konzerte fiel Thomas R. auf. Deshalb sollte er im NSU-Prozess vor dem OLG München aussagen.
Viele Zeugen aus dem Umfeld “der Drei” sind in den vergangenen 100 Prozesstagen durch unverhohlen vorgetäuschte Erinnerungslücken, plötzlichem Gedächtnisverlust oder wegen Falschaussagen, vulgo Lügen in denkwürdiger Erinnerung geblieben. Bis zum 100. Prozesstag blieb dieses Verhalten völlig ungeahndet aber nicht unbeachtet.
Am heutigen symbolträchtigen 100. Prozesstag wollte der Vorsitzende Richter Götzl offenbar ein Zeichen setzen. Während der Vernehmung des Thomas R. war im Gerichtssaal plötzlich das Wort “Ordnungsmittel” vernehmbar. Soweit nichts ungewöhnliches. Die Vertreter der Nebenklage führten diesen Begriff schon öfters ins Felde. Ordnungsgeld oder Beugehaft gehören untrennbar zu dieser Vokabel und sind auch schon öfters während der Hauptverhandlung gefallen. Aber eben niemals von Götzl selbst. Ein derartiges Ansinnen der Nebenklage wurde bisher ausnahmslos von der Generalbundesanwaltschaft oder vom Senat rigoros abgeschmettert.
Heute war alles anders: Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl höchstpersönlich sprach das Wort “Ordnungsmittel” aus eigenem Antrieb und ohne dass von irgendeiner Seite ein entsprechender Antrag gestellt wurde, von selbst aus.
Hier ein kurzer Ausschnitt aus der Vernehmung von Thomas R.
Götzl: “Wer gehörte aus Chemnitz dazu?”
Thomas R.: “Bin zu Veranstaltung hin, das war es dann auch schon …”
Götzl: “Ich fragte nach Leuten, mit denen Sie zu tun hatten.”
Thomas R.: “Das will und muss ich hier nicht sagen.”
Und hier ein Beispiel aus dem Bereich Verfassungsschutz:
Der vom Landesamt für Verfassungsschutz bestellte “Zeugenbeistand” für den ehemaligen V-Mann Benjamin G. Rechtsanwalt Volker Hoffmann hat am 64. Prozesstag im NSU-Prozess offenbar unwahr ausgesagt. Diesen Verdacht legt zumindest eine Meldung der Frankfurter Rundschau vom 06.12.13 nahe. Demnach hatte laut Frankfurter Rundschau ein Sprecher des hessischen Verfassungsschutzes bestätigt, dass RA Hoffmann vom hessischen Verfassungsschutz nicht nur für die Vernehmung von Benjamin G. am 04.12.13 vor dem OLG München bestellt und bezahlt wurde, sondern auch für eine Vernehmung von G. durch das BKA im Jahr 2012.
Der hessische Verfassungsschutz hat bestätigt, dass er beim Rechtsterrorismus-Verfahren in München den Anwalt für einen früheren Zuträger aus der rechtsextremen Szene bezahlt hat. Auch bei der Vernehmung durch das Bundeskriminalamt im Jahr 2012 habe die Behörde den Rechtsanwalt Volker Hoffmann für den früheren Rechtsextremisten Benjamin G. entlohnt, sagte ein Sprecher des Verfassungsschutzes der Frankfurter Rundschau am Donnerstag.
Genau diese Vernehmung vom 26.04.12 war unter anderem ein Thema im NSU-Prozess am 04.12.13. Auf die Frage von Nebenklageanwalt Bliwier, ob G. sich an diese Vernehmung erinnere, antwortet dieser nach mehreren Nachfragen mit “nein”. Auch RA Hoffmann hat laut meiner Mitschrift der Vernehmung keine Erinnerung mehr an die Befragung durch das BKA: Schenkt man der Meldung der Frankfurter Rundschau glauben, dann hat RA Hoffmann eindeutig vor dem OLG München gelogen.
Hier die entsprechende Passage der Verhandlung am 04.12.13:
Bliwier macht einen weiteren Vorhalt aus dem Vernehmungsprotokoll des BKA vom 26.04.2012: “Sie hatten damals folgendes ausgesagt: ‘Danach hatte ich bis zum 23.04.2012 mit dem LfV überhaupt keinen Kontakt mehr. An diesem Tag bin ich von zwei Mitarbeitern aufgesucht worden, die mich auf die heute stattfindende Vernehmung ansprachen.’ Haben Sie das verstanden?”
– Stille –
Richter Götzl erklärt in einfachen Worten die Frage nochmals.
– Stille –
Bliwier: “Herr G., hat Ihr Zeugenbeistand die Vernehmung vom 26.04.2012 in seinen Akten?”
– Stille –
Bliwier: “Kennen Sie diese Vernehmung?”
G.: “Ich hab hier keine Zettel.”
Bliwier: “Ob Sie die Vernehmung überhaupt kennen…”
Hoffmann: “Wir haben keinerlei Protokolle bekommen.”
Bliwier: “Nochmal: ‘Danach hatte ich bis zum 23.04.2012 mit dem LfV überhaupt keinen Kontakt mehr. An diesem Tag bin ich von zwei Mitarbeitern aufgesucht worden, die mich auf die heute stattfindende Vernehmung ansprachen.’ Erinnern Sie sich?”
Thomas Gerlach ist einer der aktivsten Neonazis aus Thüringen. Er leugnet seine ultrarechte Einstellung nicht, sondern er schildert sein krudes Weltbild in geradezu unerträglicher Art und Weise. Gerlach war unter anderem Mitglied beim Thüringer Heimatschutz (THS), also der Organisation aus der vermutlich der NSU hervorgegangen ist. Zudem werden Gerlach engste Verbindungen zu den rechtsextremen und gewaltbereiten Hammerskins nachgesagt. Er sagt am 10.07.2014 bereits zum 2. Mal aus. Seine 1. Vernehmung am 01.07.2014 wurde vom Vorsitzenden Richter Manfred Götzl abrupt unterbrochen.
Gleich nach der Begrüßung um 13:10 Uhr erinnert Richter Götzl den Zeugen Thomas Gerlach an die Belehrungen zu einem möglichen Aussageverweigerungsrecht und zur Anwendung von Ordnungsmitteln aus der letzten Vernehmung vom 01.07.2014.
Götzl: „Erinnern Sie sich noch daran?“
Gerlach: „Ja.“
Götzl: „Sind Ihnen Personen aus der Schweiz oder Portugal bekannt, die Waffen besorgen können?“
Gerlach: „Ich kenne Leute aus der Schweiz und Portugal. Ob die eine Waffe besorgen können? Ich weiß es nicht.“
Götzl: „Ich frag nochmal: Personen, die Waffen besorgen können?“
Gerlach: „Nein.“
Götzl: „Haben Sie selbst Waffen beschafft? In dem Zusammenhang belehre ich Sie nochmals nach § 55 StPO, dass Sie auf Fragen, die Sie selbst belasten könnten, nicht antworten müssen.“
Gerlach: „Nein.“
Götzl: „Zu den Hammerskins: Kennen Sie das Logo der Hammerskins?“
Gerlach: „Ich werde zu den Hammerskins nichts sagen. So wie ich es letztes Mal hier auch gesagt habe.“
Götzl: „Gar nichts ..?“
Unterstützung für Gerlach durch Wohlleben-Verteidigung?
Wohlleben-Verteidiger RA Klemke springt Gerlach mit seiner Wortmeldung bei: „Der Verteidigung Wohlleben ist bekannt, dass es 2003 ein Ermittlungsverfahren gegen das „Chapter Sachsen“ der Hammerskins wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB, gegeben hat. Es gab da auch Hausdurchsuchungen bei dem Zeugen. Wir sollten erst prüfen, ob das Verfahren noch bei der Staatsanwaltschaft Dresden anhängig ist.“
Mit diesem Einwand will RA Klemke dem Zeugen Thomas Gerlach offenkundig die Möglichkeit eröffnen, sich auf § 55 StPO zu berufen. So könnte sich Gerlach problemlos weigern, Fragen zu den Hammerskins zu beantworten. Allerdings nur dann, wenn dieses von RA Klemke ins Spiel gebrachte Verfahren noch nicht eingestellt ist. RA Klemke lässt es sich nicht nehmen, mit einer gewissen Süffisanz seine Gesinnung darzustellen und schiebt folgendes Statement hinterher: „Gegen Rechts wird ja in letzter Zeit öfters ermittelt.“
Richter Götzl lässt sich nicht provozieren und fragt betont sachlich bei RA Klemke nach: „Ja, haben Sie denn Kenntnisse dazu?“
RA Klemke: „Nein.“
Götzl: (An Gerlach gerichtet) „Und Sie?“
Thomas Gerlach (li.) am 01.07.14 – Foto: J.Pohl
Gerlach: „Es gab mal ne Hausdurchsuchung, es wurde schon ermittelt. Glaube, ich hab keine Einstellung bekommen.“
Götzl: „Wurde gegen Sie ermittelt?“
Gerlach: „Ja.“
Götzl: „Wann?
Gerlach: „2003“
Götzl: „Und keine Einstellung ..?“
Gerlach: „Nein.“
Ratlosigkeit im Senat: Themenwechsel
Es folgt eine lange Pause. Richter Götzl berät sich mit den übrigen Mitgliedern des Senats. Im Saal herrscht absolute Stille.
Götzl: „Anderes Thema: War Mundlos mal in der Schweiz?“
Gerlach: „Diese Person war mir damals nicht bekannt.“
Götzl: „Man kann auch Informationen haben, ohne dass man jemanden kennt.“
Gerlach: „Nö.“
In diesem Moment klingelt das Handy der Eminger-Verteidigung. Götzl weist Emingers Verteidiger in scharfem Ton zurecht, dieser braucht eine gefühlte Ewigkeit, um sein Handy zum Schweigen zu bringen.
Götzl: „Nochmal: Haben Sie diesbezüglich was von Mundlos mitbekommen?“
Gerlach: „Nein. Hab ich nicht.“
Wieder wechselt Richter Götzl das Thema: „Haben Sie jemals Daten von Mandy Struck (Anm.: Ex-Freundin) weiter gegeben?
Gerlach: „Nein.“
Ein Neonazi kämpft gegen den drohenden Volkstod
Götzl: „Zu Ihrer politischen Einstellung: Stehen Sie dazu, Menschen zu vertreiben? Oder Sie zu vernichten?“
Gerlach: „Nein.“
Götzl: „Zu keinem Zeitpunkt?“
Gerlach: „Zu keinem Zeitpunkt.“
Götzl: „Sagt Ihnen der Begriff ‚Volkstod‘ etwas?“
Gerlach: „Ja. Das hat die nationalen Kreise verbunden. Hat damit zu tun, dass das deutsche Volk durch eine zu niedrige Geburtenrate ausstirbt. Die Einwanderer haben ein hohe Geburtenrate.
Götzl: „Und wie stehen Sie dazu?“
Gerlach: „Unser Ziel war es, den Volkstod aufzuhalten. Durch Begrenzung von Zuwanderung, gezielte Rückführung von Ausländern und die Geburtenrate von Deutschen zu erhöhen. Durch Unterstützung von deutschen Firmen, dass mehr Kinder wieder machbar sind. Und durch finanzielle Unterstützung.“
Götzl: „Was haben Sie da persönlich unternommen?“
Gerlach: „Die ‚Nationale Bewegung‘ ist nicht in der Lage Gesetze zu geben. Es blieb nur Propaganda, um den Volkstod aufzuhalten.“
Götzl: „Wie haben Sie da mitgewirkt?“
Gerlach: „Durch viele Gruppierungen. Eben durch regionale und ‚Freie Netze‘. In einer Region auch durch den KDS (Kampfbund Deutscher Sozialisten) oder durch die NPD.“
Götzl: „Sind Sie Mitglied der NPD?“
Gerlach: „Nein.“
Götzl: „Und sonstige Gruppen?“
Gerlach: „Jede Kameradschaft arbeitet daran, um dies zu erreichen. Das ist das Hauptziel.“
Götzl: „Und Sie? Kameradschaft?“
Gerlach: „Nationale Sozialisten Altenburger Land“
André Eminger – Foto: J.Pohl
Götzl: „Kennen Sie André Eminger?“
Gerlach: „Kenn ich nicht.“
Götzl: „Und Maik Eminger?“
Gerlach: „Auch nicht. Nur aus der Presse.“
Götzl: „Ja, gab es denn vielleicht mal Gespräche ..?“
Gerlach: „Nicht bewusst.“
Götzl: (zeigt auf André Eminger) „Er sitzt da. Schauen Sie ihn halt an.“
Gerlach blickt kurz zu Eminger und schüttelt den Kopf.
Götzl: „War André Eminger mal Gesprächsthema?“
Gerlach: „Nach 2011. Nur von Presse. Hab mich nicht bewusst über ihn mit irgendjemand unterhalten.“
Die Hammerskins gingen ihm über alles!
Richter Götzl konfrontiert Gerlach mit einer Aussage von Mandy Struck aus einer Vernehmung durch das BKA vom 30.12.2011:
„[Die] Kameradschaft Nationale Sozialisten Altenburger Land im Jahr 2004 gegründet. Da war er dabei und das habe ich noch mitbekommen.“
„Ich habe gewusst, dass er als Redner und Ordner bei den Montagsdemos [in Altenburg] fungierte.“
„Fest der Völker hat er organisiert und seine Hammerskins. Die gingen ihm über alles. Es ging darum Zellen zu bilden in ganz Mitteldeutschland. Das man überall jemanden sitzen hat, der gut reden kann um halt wieder Leute auszubilden, die eigenständig arbeiten können. So dass man überall Leute hat, wenn eine Aktion startet […].“
Götzl: „Was sagen Sie zu Zellen?“
Gerlach: „Das ist ihre (Anm.: Mandy Strucks) Wortwahl. Wir haben das schon angestrebt. Aber nicht als Zellen. Jeder sollte seine eigenen Redner haben, eigene Infrastruktur. Wenn welche Verluste haben, dass man weiterarbeiten kann. Ich nenne das nicht ‚Zelle‘, sondern ‚Aktionsgruppen‘.
Götzl: „Haben Sie eine Zelle mit Struck betrieben?“
Gerlach: „Glaub ich nicht. Zelle war eher eine kleine Gruppe.“
Götzl: „Wie weit haben Sie ihr Konzept verwirklicht?“
Gerlach: „Bis etwa 2009/2010 erfolgreich. Dann ist es im Sande stecken geblieben.
Götzl: „Wie hat man sich genannt?“
Gerlach: „Freies Netz.“
Götzl: „Welche Rolle hat da Gewalt gespielt?“
Gerlach: „Gewalt hat da keine Rolle gespielt, ist nicht zielführend. Auch Gewalt gegen Ausländer ist nicht zielführend.
Götzl: „Und bei den anderen?“
Gerlach: „Ich kann nicht in die Köpfe anderer gucken. Wir haben Gewalt immer abgelehnt.“
Götzl: „Wir ..?“
Gerlach: „Die, mit denen ich zusammen gearbeitet habe. Der Wohlleben und der Kapke.“
Götzl: „Und? Weitere ..?“
Gerlach: „Fallen mir spontan keine weiteren ein.“
Götzl: „Ja, jetzt überlegen Sie mal, Sie haben …“
Gerlach: (unterbricht Götzl) „Keine.“
Götzl: „Sie haben ja schon mit Schwung angesetzt.“
Gerlach: „…“
Götzl: „Und Altenburg?“
Gerlach: „Ich.“
Götzl: „Alleine?“
Gerlach: „Andere kenne ich nicht.“
Götzl: (spürbar verärgert) „…“
Bedrohliche Stille im Gerichtssaal –
Gerlach: Der letzte aufrechte Ritter der Tafelrunde?
Gerlach: „Sie wollen von mir Namen wissen, die mit mir aktiv waren?
Götzl: (in deutlich lauterem Tonfall): „Ja!“
Gerlach: „Sag ich nicht.“
– Stille –
Götzl: „Warum?“
Gerlach: „Ich hab den Prozess hier verfolgt. Die so genannte Nebenklage quatscht Informationen an die Antifa weiter. Wenn ich die nennen würde, dann sind die Repressalien ausgesetzt. Auch die Bundesanwaltschaft hat Informationen an die Presse verteilt.“
Götzl: „…“
Gerlach: „Es sagen mir Leute, sie laufen Gefahr wegen Antifa-Gruppen ihre Arbeit zu verlieren.“
Götzl: „Da wollen Sie auch nichts sagen? Der § 55 StPO gibt Ihnen hier kein Auskunftsverweigerungsrecht“
Gerlach: „Das ist mir bewusst. Ich sehe auch den Konflikt zwischen dem Gericht und mir. Das kann ich nicht mit meiner Moral und meinem Wertegefühl vereinbaren, dass Leute Arbeit verlieren weil das dem Fernsehen und der Presse gesagt wird. Auch wenn ich dafür eine Strafe bekomme.“
Götzl: „Ordnungsmittel! Wir stellen das erst einmal zurück. Ihnen ist das ja bewusst.“
Gerlach: „Ja.“
Götzl: „Hammerskins?“
Gerlach: „Werde ich nichts dazu sagen. Ich weiß, wie die Antifa funktioniert. Ich weiß, wie die Nebenklage Infos verbreitet. Wenn ich Namen aus Altenburg nenne, dann gibt es Schlägereien usw.. Ist mir bewusst, dass ich Strafe kriegen kann.
Götzl: „Was wissen Sie über den ‚Führerlosen Widerstand‘?“
Gerlach: „Da gibt es ein Schreiben aus den 90gern. Für mich bedeutet das die losen Gruppen, die zusammenarbeiten.“
Götzl: „Und deren Einfluss auf ihre politische Arbeit?“
Gerlach: „Gruppen waren schon irgendwie organisiert. Haben uns abgewechselt. Zum Beispiel Jena mit Altenburg und so.“
Götzl: „Wann haben Sie erstmals den Begriff ‚NSU‘ gehört?“
Gerlach: „2011. Durch die Presse.“
Götzl: „Und zuvor?“
Gerlach: „Nein.“
Götzl: „Der Begriff ‚Braunes Haus’“?
Gerlach: „Ja. Wurde intern verwendet.“
Götzl: „Und Ihr Spitzname? Woher ..?“
Gerlach: „Überall verwendet.“
Götzl: „Wie oft hatten Sie Kontakte zu Struck?“
Gerlach: „Als Beziehung zu Ende war, nur einmal in Halbe.“
Das falsche Spiel von Klemke
Götzl: (An RA Klemke gerichtet) „Haben Sie zufällig das Aktenzeichen des Ermittlungsverfahren:“
RA Klemke: „Nein.“
RA Narin – Foto: J. Pohl
RA Narin: „Herr Vorsitzender, ich hab es möglicherweise.“ (Nennt Aktenzeichen) „Das war ein 129er Verfahren, wurde 2005 eingestellt. (Anm.: § 129 StGB – Bildung krimineller Vereinigungen)
Richter Götzl bittet Gerlach nach vorne zum Richtertisch, es werden Fotos in Augenschein genommen und für alle sichtbar auf die Leinwände projiziert. Es handelt sich um Gruppenaufnahmen mit Hammerskins.
Götzl: „Wo sind diese Fotos entstanden?“
Gerlach: Wo die entstanden sind, will ich nicht sagen. Zu den Personen sag ich auch nichts.“
Götzl: „Warum?“
Gerlach wiederholt beinahe wortwörtlich seine Aussage zu dieser von Richter Götzl schon mehrfach gestellten Frage. Götzl wendet sich merklich genervt von Gerlach ab und versucht, nähere Informationen zum Gerücht, dass ein Ermittlungsverfahren gegen Gerlach mit vermutetem Bezug zur Thematik Hammerskins im Gange ist, zu erhalten. RA Klemke hatte dieses Gerücht gleich zu Beginn der Vernehmung geschickt platziert. Im Laufe dieser kurzen, aber heftigen Diskussion erklärt sich GBA Diemer bereit zu versuchen, Fakten dazu von der Staatsanwaltschaft Dresden zu erhalten. OStA Weingarten verlässt den Saal, vermutlich um den Auftrag von Diemer umzusetzen.
RAin Lunnebach von der Nebenklage versucht eine Frage, die genau zur richtigen Zeit käme, zu stellen: „Hatte der Zeuge Gerlach vor kurzem Kontakt zu RA Klemke?“ Götzl wiegelt die Frage per Handstreich ab: „Wenn Sie dran sind, Frau Rechtsanwältin!“
Richter Götzl befragt Gerlach zu seinen privaten, beruflichen und finanziellen Verhältnissen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass die Verhängung eines Ordnungsgeldes droht. Gerlach gibt bereitwillig Auskunft.
Götzl: (An GBA Diemer gerichtet) „Der Herr Weingarten ..?“
GBA Diemer Foto: J.Pohl
Diemer: „Versucht in Sachen Ermittlungsverfahren zu klären. Weiß nicht wie lange das dauert.“
Ein wahres Fragenfeuerwerk von RA Scharmer beginnt
Das Fragerecht geht an die Nebenklage. RA Scharmer beginnt mit der Befragung: „Haben Sie den Prozess-Auftakt hier als Tag der Schande bezeichnet?“
Gerlach: „Ja. So wie der Prozess hier läuft, ist das eine Schande.“
RA Scharmer: „Haben Sie einen Twitter-Account unter dem Namen ‚Ace_79‘?“
RA Scharmer lässt einen per Screenshot gesicherten Tweet vom 06.05.2013 von Gerlachs Twitter-Account zeigen. Neben „Tag der Schande“ findet sich hier auch der Begriff „Affentheater“.
Screenshot: Tweet vom 06.05.2013
Gerlach: „Prozesse wie diese bringen ein ’seltsames Rechtssystem‘ zutage.“
RA Scharmer: „Mit ‚Affentheater‘ meinen Sie wen ..?“
Gerlach: „Na so halt …“
Screenshot: Tweet vom 03.05.2013
RA Scharmer: „Meinen Sie auch das Gericht?“
Gerlach: „Keine Personen. Auch keinen Richter.“
Ein weiterer Screenshot von einem Tweet, den Gerlach kurz nach seiner Einvernahme am 01.07.2014 geschrieben hatte: „[…] Die Tafelrunde ist entehrt, wenn ein falscher ihr angehört. […]“
Screenshot: Tweet vom 01.07.2014
Gerlach: „Ich wusste ja, dass Sie das beobachten und dass das Thema wird. Ist eben mein Fazit des Tages.“
RA Scharmer: „Was meinen Sie damit?“
Gerlach: „So, wie es da steht. Fand das Zitat schön und passend. Will nicht verantwortlich sein, dass Leuten Nachteile entstehen.“
RA Scharmer: „Tafelrunde? Wer ist da gemeint?“
Gerlach: „Niemand. Mein Verhalten.“
RA Scharmer: „Wertegefühl?“
Gerlach: „Ja. Ich werde es nochmal erläutern.“ Im Folgenden schwurbelt er beinahe Wortgetreu nun zum 3. Mal über seine Moralvorstellung, durch seine Aussage unschuldige Kameraden durch Antifa und Presse in Gefahr zu bringen.
RA Scharmer: „Sie sind Teil der Tafelrunde?“
Gerlach: „Nein. Mein Verhalten ist ritterlich.“
RA Sebastian Scharmer – Foto: J. Pohl
RA Scharmer: „Ich hätte noch Fragen zum Thema Hammerskins. Und zwar liegen uns Fotos von der sichergestellten Festplatte aus dem PC des Herrn Wohlleben vor.“
Es werden Fotos von einem „Ritteressen“ mit mehreren Teils in Rittergewändern gekleideten Personen gezeigt. Ralf Wohlleben ist dabei auf den ersten Blick erkennbar.
RA Scharmer: „Erkennen Sie jemanden?“
Gerlach: „Ja. Wohlleben.“
Das nächste Foto: Ein Gruppenbild. Alle Personen posieren mit vor dem Oberkörper gekreuzten Armen.
RA Scharmer: „Und ..?“
Gerlach: „Sag ich nichts.“
RA Scharmer: „Wer darf dieses Symbol machen?“
Gerlach: „Möchte ich nichts dazu sagen.“
RA Scharmer: „Ist Wohlleben dabei?“
Gerlach: „Sag ich nichts.“
RA Scharmer: „Eminger?“
Gerlach: „Sag ich nichts.“
RA Scharmer: „Was ist ‚NOM‘? ‚National Officers Meeting‘?“
Gerlach: „Sag ich nichts.“
RA Scharmer: „2011?“
Gerlach: „Sag ich nichts.“
RA Scharmer: „Wer darf da hin?“
Gerlach: „Sag ich nichts.“
RA Scharmer: „Welche Hammerskin-Gruppen gibt es?“
Gerlach: „Sag ich nichts.“
RA Scharmer: „Wer ist verantwortlich?“
Gerlach: „Sag ich nichts.“
RA Scharmer: (An Richter Götzl gerichtet) „Herr Vorsitzender! Ich stelle die Fragen deshalb, um dem Zeugen eine Aussageverweigerung nachweisen zu können.“
RA Scharmer: „Chapter West-Sachsen?“
Gerlach: „Sag ich nichts.“
RA Scharmer lässt sich durch die Arroganz von Thomas Gerlach nicht aus dem Konzept bringen und stellt im atemberaubendem Tempo Frage um Frage: „Jörg W.?“
Gerlach: „Sag ich nichts.“
RA Scharmer: „…“ (Wird von Gerlach unterbrochen.)
Gerlach: „Können Sie die Fragen nicht hintereinanderstellen? Dann brauch ich nur einmal zu antworten.“
Die Gesichtsfarbe von Richter Götzl wechselt nach dieser Frechheit in ein bedrohlich wirkendes dunkelrot: „Jetzt werden Sie mal nicht unverschämt!“ Die Wände des Gerichtssaals scheinen zu beben.
RA Scharmer bleibt unbeeindruckt und macht weiter: „Sagt Ihnen der Begriff ‚Fourteen Words‘ etwas?“
Gerlach gibt zumindest kurzfristig seine fragwürdige Taktik auf und antwortet ausnahmsweise. Er schwurbelt und stammelt, gibt so ein jämmerliches Halbwissen zu Fakten, die ein Hammerskin eigentlich aus dem Effeff wissen müsste, preis: „Ja, das kommt aus dem amerikanischen, so genau bekomme ich das auf Englisch nicht hin, irgendwie so: We must the existence unseres Volkes sichern oder so irgendwie. Jedenfalls geht es darum, die Existenz unserer Rasse zu sichern.“
(Anm.: Die erstmals in Kreisen weißer Neonazis aus den USA aufgetauchte Floskel „Fourteen Words“ ist ein extrem rassistisches und menschenverachtendes Glaubensbekenntnis. Mit den „Fourteen Words“ beschwören extrem rechts gesinnte und meist auch gewaltbereite Neonazis die – deren Überzeugung nach – Überlegenheit der „weißen oder arischen Rasse“. )
Fourteen Words: „We must secure the existence of our people and a future for White children.“ („Wir müssen die Existenz unseres Volkes und die Zukunft für die weißen Kinder sichern“)
RA Scharmer: „Wie stehen die Hammerskins zu den ‚Fourteen Words‘?“
Kaum fällt der Begriff „Hammerskin“ ist Gerlach keine vernünftige Antwort mehr zu entlocken: „Sag ich nichts.“
RA Scharmer: Herr Vorsitzender! Sie sehen, es macht keinen Sinn, weitere Fragen zu stellen. Ich beantrage Ordnungsmittel.“
Götzl: „Wir müssen erst die näheren Umstände zum Ermittlungsverfahren erfahren.“
RA Scharmer: „Ich sehe das anders. Der Zeuge beruft sich ausdrücklich nicht auf den § 55 StPO.“
Das Fragerecht wechselt zu RAin Lunnebach: „Zuerst möchte ich hier festhalten: Der Zeuge ist respektlos. Ich hätte einige Fragen, aber unter diesen Umständen werde ich jetzt keine stellen.“
Der wandlungsfähige Herr Gerlach.
Wohlleben-Verteidigerin RAin Schneiders ist an der Reihe: „Herr Gerlach, wissen Sie von Ermittlungen gegen das ‚Freie Netz Süd‘?“
Seltsamerweise antwortet Gerlach hier ausführlich und in einem bemerkenswert ruhigen Tonfall. Es drängt sich an dieser Stelle der dringende Verdacht auf, dass er diese Frage erwartet hat. Schlimmer noch: Es riecht hier an dieser Stelle der Einvernahme nach einer Absprache zwischen Gerlach und der Wohlleben-Verteidigung. Beweisbar ist das natürlich ist.
Gerlach: „Ja, ich hab das beiläufig mitgekriegt und etwas davon gelesen. Bin mir aber nicht mehr 100%ig sicher. Es gab da auch Hausdurchsuchungen.“
Wohlleben-Verteidigung RA Nicole Schneiders – Foto: J. Pohl
RAin Schneiders: „Waren Sie auch davon betroffen?“
Gerlach: „Nein.“
Eine seltene Wortmeldung von Nebenklage-Anwalt RA Erdal: „Herr Zeuge! Haben Sie eigentlich einen Schulabschluß?“
Gerlach antwortet pampig und herablassend: „Ja! 10. Klasse. Realschule.“
Götzl: „Herr Gerlach, haben Sie eigentlich die Befürchtung, dass gegen Sie ein Verfahren eingeleitet wird, wenn Sie hier auf Fragen antworten?“
Gerlach schwurbelt sich um eine Antwort herum: „Weiß nicht.“
Götzl: „Jetzt mal konkret! Warum die Durchsuchung? Welche Vorwürfe gab es gegen Sie? Ich meine jetzt 2003.“
Gerlach: „Bildung einer kriminellen Vereinigung. So wie Klemke schon sagte. Ich hatte sehr viele Durchsuchungen und Schriftwechsel mit der Staatsanwaltschaft. Und ich war bis 2004 in Haft. Ich bin zu dieser Thematik nie vernommen worden.“
Ermittlungsverfahren verzweifelt gesucht.
OStA Weingarten ist inzwischen wieder im Saal anwesend.
Götzl: „Herr Weingarten, gibt es Informationen?“
OStA Weingarten Foto: J. Pohl
OStA Weingarten: „Wir haben eine Verfahrensabfrage bei der Staatsanwaltschaft Dresden gemacht. Und zwar ‚prompt‘. Bis jetzt haben wir noch kein Ergebnis.“
Richter Götzl ordnet deswegen um 14:00 Uhr eine Verhandlungspause von 20 Minuten an.
Um 14:35 wird weiter verhandelt.
Götzl: „Und? Generalbundesanwaltschaft? Gibt es Informationen?“
Gerlach: „Weiß ich nicht. Ich hab eine Vorladung bekommen, bin aber nicht hingegangen.“
Götzl: (genervt) „Was war der Vorwurf?“
Gerlach: „Die haben irgendwie eine Waffe gesucht. Ich kenne mich mit Waffen aber nicht so aus.“
– Gelächter im Saal –
Götzl: „Dann werden wir jetzt Ihre Einvernahme für heute beenden. Die Akten der Staatsanwaltschaft Dresden werden beigezogen. Und Sie Herr Gerlach …“
Gerlach: „Ja ..?“
Götzl: „Sie sind für den 24.07.2014, das ist ein Donnerstag, nochmals vorgeladen. Haben Sie das verstanden?“
Gerlach: „Ja.“
Damit ist für heute die 2. Vernehmung von Thomas Gerlach um 14:40 beendet.
RAin Lunnebach: „Ich würde gerne eine Stellungnahme zur Vernehmung des Zeugen Gerlach abgeben. Ich weiß nicht, ob Sie es genehmigen.“
Götzl: „So etwas ist aber nicht üblich, Frau Rechtsanwältin.“
RAin Lunnebach: „Das ist mir bewusst. Deswegen frage ich ja, ob Sie es genehmigen.“
Götzl: „Wir stellen das zurück.“
Damit ist der Prozesstag beendet. Richter Götzl hat mit seiner Weigerung zur Abgabe eines Statements durch RAin Lunnebach zum Verhalten des Thomas Gerlach eine große Chance vertan. Gerlach ist der erste Zeuge aus der Naziszene, der aus seiner Gesinnung keinen Hehl machte. Er hat es geschafft, minutenlang über den drohenden Volkstod zu schwadronieren. Er konnte sogar ausführlichst seine extrem rassistischen „Lösungsansätze“ zur Verhinderung des Volkstodes darlegen. Niemand hat ihn dabei unterbrochen. Gerlach verhielt sich den Verfahrensbeteiligten und sogar dem Gericht gegenüber extrem respektlos. Eingegriffen hat niemand. Anwälte der Nebenklage werden vom Vorsitzenden Richter Götzl regelmäßig bloßgestellt, gemaßregelt und „zusammengefaltet“, wenn Sie beispielsweise nicht sofort die korrekte Fundstelle einer Akte benennen können.
Gerlach dagegen wurde mit Milde behandelt, er wurde geradezu verhätschelt. Nur einige Minuten nach dem Ende seiner Einvernahme veröffentlichte Thomas Gerlach folgenden Tweet:
Der 32. Prozesstag am 06. August 2013 ist zugleich der letzte Verhandlungstag vor der Sommerpause, die mit dem 05. September 2013 endet. Am vorletzten Verhandlungstag war der allgemeine Tenor, dass am letzten Verhandlung vor der großen Pause das Interesse der Medien und Besucher sich in einem überschaubaren Rahmen halten wird, da lediglich ein Verhandlungstag angesetzt war und nicht wie sonst üblich drei Tage.
Ein Prozessbeobachter im Stress.
Aber weit gefehlt: Schon bei der Anfahrt über die Nymphenburger Straße in Richtung OLG München, war die geballte Präsenz der Medien schon von Weitem sichtbar. Satellitenübertragungswägen der deutschen und der internationalen Fernsehanstalten ohne Ende. Auch das ZDF hatte wieder das gigantisch große mobile Fernsehstudio aufgebaut. Gerade an diesem Tag hatte ich mich extra früh auf den Weg gemacht, um keine Zeugenaussage zu verpassen, dies hatte ich einem Kollegen aus Berlin versprochen, der sich die weite und teure Anreise wegen einem einzigen Tag ersparen wollte.
NSU-Prozess: ZDF-Sendezentrale auf der Nymphenburger Str. Foto: J. Pohl
31°C, kein Parkplatz in Sicht und die Uhr tickt.
Jeder Prozesstag beginnt um 09:30 Uhr. Um Punkt 09:00 bin ich mit dem Auto am OLG München angekommen, der Platz vor dem Haupteingang ist mit Medienvertretern und Prozessbeobachtern vollgepackt. Vor dem Eingang hat sich bereits eine lange Schlange gebildet. Mein Autothermometer zeigt 31°C Außentemperatur an. Die anschließende Parkplatzsuche nimmt normalerweise keine 10 Minuten in Anspruch. Aber nicht an diesem Tag. Heute sind besonders viele Einsatzwägen rund um das Gelände geparkt, die Pressevertreter belegen alle Parkplätze, die sonst frei sind.
Ein großes Opfer für die Preußen …
Schließlich finde ich doch noch einen Parkplatz. Manchmal muss man seine Grundüberzeugung über den Haufen werden, wenn es einer wichtigen Sache dient: Denn ich parke direkt vor der CSU-Parteizentrale. Hätte ich nicht versprochen, den Kollegen aus Berlin mit Informationen aus erster Hand zu versorgen, wäre ich vielleicht noch einmal um den Block gefahren. Aber was tut man nicht alles, um die bayerisch-preußischen Beziehungen zu pflegen?
Ohne Espresso geht nix. Auch wenn er von Franz-Josef (Strauß) ist.
Ohne mir vorher einen doppelten Espresso zu gönnen, habe ich noch nie einen Verhandlungstag besucht. Gleich neben meinem Parkplatz befindet sich ein gerade eben geöffnetes Restaurant. Die Wirtin hat mir einen vorzüglich gebrauten doppelten Espresso zum Mitnehmen gemacht. Offenbar hat sie gemerkt, dass ich in großer Eile bin. Als ich meinen Geldbeutel zückte, meinte sie nur: „Passt scho!“ Ich hab mich artig dafür bedankt, aber dennoch gleich klargestellt, dass ich trotzdem die CSU nicht wählen werde. Der Name des Restaurants neben der CSU-Parteizentrale lautet übrigens „Franz-Josef“. Mit dem Gedanken, dass unter Strauß vielleicht doch nicht alles schlecht war, begebe ich mit Espresso im Laufschritt Richtung Gerichtsgebäude.
35°C, eine lange Schlange und die Uhr tickt weiter…
Die Temperatur liegt jetzt mindestens bei 35°C. Um exakt 09:25 stehe ich vor dem Eingang für Prozessbeobachter am OLG München. In der Schlage vor mir stehen etwa 20 Personen, der freundliche Justizbeamte informiert uns, dass die Besuchertribüne inklusive Pressebereich bereits aus allen Nähten platzt. 10 Personen geben nach dieser Information sofort auf und verlassen das Gelände.
„Die wollten nur Zschäpe gucken.“
Warten … „36 Grad und es wird immer heißer“ singt ein sichtlich gut gelaunter Justizbeamter. Und nein, er wollte uns nicht damit ärgern. Weitere 5 Personen werden eingelassen. „Da sind 5 raus, die wollten nur Zschäpe gucken“, sagt der Beamte.
Wir restlichen 5 werden jetzt auch eingelassen, müssen aber hinter der Sicherheitskontrolle warten, bis jemand die Tribüne verlässt. „Wir wollen ja nicht, dass Sie da draußen gegrillt werden“, meint der Beamte. Der BR-Korrespondent und 2 weitere akkreditierte Journalisten mit dem begehrten gelben Ausweis verlassen den Saal. Mit einem weiteren Prozessbeobachter warte ich geduldig auf Einlass. Plötzlich kommt ein Pärchen mit ausgeprägtem sächsischen Dialekt die Treppe von der Besuchertribüne herunter, um die Toilette aufzusuchen. Ruck-Zuck öffnet ein Justizbeamter grinsend die Schranke zur Treppe: „Bitteschön! Wieder zwei Plätze frei geworden.“
Ein Logenplatz, der es in sich hat.
Auf der Tribüne angekommen, werde ich und der andere Prozessbeobachter von den oben diensthabenden Beamten zu den zwei freien Plätzen begleitet. Erste Reihe, genau in der Mitte! Mein Sitznachbar an der rechten Seite mustert mich missbilligend, ich ignoriere ihn und beginne mit meinen Notizen der 2. Zeugenvernehmung an diesem Prozesstag, die gerade in diesem Moment begonnen hat. Den ersten Zeugen habe ich leider verpasst.
Der Mord an Ismail Yaşar.
Die Aufzeichnungen beginnen also mit der Vernehmung der Zeugin Polizeiobermeisterin Sindy J. zum Mord an Ismail Yaşar. Yaşar wurde am 09. Juni 2005 in seinem Döner-Imbiss in der Scharrerstraße Nürnberg durch 5 Schüsse gegen 09:50 Uhr ermordet. Zum Tatzeitpunkt war Yaşar 50 Jahre alt. Beim Mord an Ismail Yaşar handelt es sich – nach dem heutigen offiziellen Ermittlungsstand – um den 6. Mordanschlag des NSU. Als dringend tatverdächtig gelten auch hier Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt.
Die Vernehmung der Polizeiobermeisterin J.
Nach der üblichen Zeugenbelehrung durch Richter Götzl fordert dieser die Zeugin J. auf zuerst frei über ihre Erinnerungen zu berichten. Die Polizeiobermeisterin sei an diesem Tag mit einem Kollegen auf Streifenfahrt gewesen, als sie informiert wurde, dass ein Mann in einer Döner-Bude in der Scharrerstraße ein Mann auf dem Boden liege. Der Mann sei blutüberströmt, so zitiert die Zeugin die erhaltene Information weiter.
Wir waren die ersten Polizisten am Tatort.
Mit ihrem Streifenwagen wären die Zeugin und ihr Kollege in der Nähe des Tatorts gewesen und seien deswegen die ersten Polizisten am Tatort gewesen, so die Zeugin J. Erst hätte sie sich selbst in den Imbiss hinein gebeugt und so das blutüberströmte Opfer gesehen. Da die Tür nicht versperrt gewesen sei, wäre ihr Kollege in den Döner-Imbiss hineingegangen. Die Zeugin wäre selbst nicht in den Imbiss gegangen. Kurz danach wäre der Notarzt gekommen und hätte nach der Untersuchung des Opfers gesagt, dass Ismail Yaşar „Ex“ ist.
Eine Anmerkung zum Verhalten der Presse.
Die Aussage der Zeugin J. hat zu einem verheerenden Presseecho geführt. Hier einige Beispiele:
Der Tagesspiegel vom 06.08.13:
„Der Kollege sei dann da reingegangen und habe festgestellt, „dass die Person ex ist“. Entgeisterte Blicke im Saal A 101 des Oberlandesgerichts München. […] Da wirkt das schnoddrige „ex“ wie eine makabre Anregung, bis zum September nicht zu vergessen, dass in diesem Prozess mehr zum Vorschein kommt als die Verbrechen einer rechtsextremen Terrorzelle.“ Quelle: >>
Spiegel-Online vom 06.08.13 zeigt sich besonders erschüttert:
„Eine gewisse Nüchternheit und Sachlichkeit ist sicher fester Bestandteil bei der Ermittlungsarbeit, Abgebrühtheit kann die Folge sein. Doch wenn eine 35 Jahre alte Polizeibeamtin über einen ermordeten Imbissbesitzer sagt: „Der Notarzt hat dann festgestellt, dass die Person ex ist“, dann sind das doch Momente, in denen man sich wünscht, einem Beamten gelänge es, der verbalen Verrohung Einhalt zu gebieten.“ Quelle: >>
Auch die Süddeutsche Zeitung vom 08.08.13 ist entsetzt:
„In dieser Woche erzählte eine Polizistin in lockerem Ton, wie sie zu einer Dönerbude fuhr, in der ein blutüberströmter Mann lag. Der Notarzt habe dann festgestellt, dass die Person „ex“ ist. Die Beamtin meinte „tot“, der Polizeijargon klang jedoch unangenehm nach „ex und hopp“. Quelle: >>
Dazu ein kurzer, persönlicher Kommentar:
„Die Person ist Ex“ ist eine absolut übliche Formulierung, die von professionell arbeitenden Personen, die immer wieder mit Verstorbenen zu tun haben tagtäglich verwendet wird. Diese Formulierung ist keinesfalls abwertend oder „schnoddrig“ gemeint. Das jemand „Ex“ ist hat auch überhaupt nichts mit „ex und hopp“ zu tun, wie die Süddeutsche Zeitung meint. Der Begriff „Ex“ ist die Kurzform von „Exitus letalis“, damit bezeichnet ein Arzt offiziell den tödlichen Ausgang einer Krankheit. Oder eben auch den tödlichen Ausgang einer Verletzung, so wie im Mordfall Yaşar der Tod durch mehrere Schussverletzungen.
Ich gehe davon aus, dass Ismail Yaşar nicht die erste Leiche ist, mit der die Zeugin konfrontiert wurde, vielleicht ist Yaşar auch nicht das erste Mordopfer, dass die Polizeibeamtin bis dahin gesehen hat. Beim Notarzt kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass er während seiner beruflichen Laufbahn mit vielen Verstorbenen zu tun hatte. Dabei handelt es sich normalerweise überwiegend um Leichen, die auf natürliche Weise verstorben sind, und zwar vom schwerstkranken Kleinkind über junge Erwachsene mit schweren Krankheiten bis zu hochbetagten Patienten, die unter ganz natürlichen Umständen versterben.
Der Notarzt, die Rettungsassistenten, das Krankenpflegepersonal hat aber im Gegensatz zu einer Streifenpolizistin auch mit dem Ableben von Personen nach Unfällen, nicht erfolgreichen Reanimationen nach beispielsweise Herzinfarkten jeden Alters zu tun. Auch um Mordopfer muss sich ein Notarzt kümmern, damit sind wir wieder bei der Polizeiobermeisterin: Ich gehe mal davon aus, dass die meisten meiner Leser noch nie eine Leiche gesehen haben. Ich hoffe, dass die wenigsten meiner Leser jemals erleben mussten, wie ein Kind nach einem Unfall trotz Reanimation stirbt.
„Dank“ meines eigentlichen Berufs musste ich alle diese Dinge schon erleben. Deswegen möchte ich den Notarzt und ausdrücklich auch die Zeugin J. wegen der Formulierung „die Person ist Ex“ in Schutz nehmen. Um so einen Beruf psychisch aushalten zu können, muss (!) man sich einen Schutzpanzer zu eigen machen, um nicht verrückt zu werden. Die Formulierung „Ex“ wird im Übrigen nur während der Kommunikation der professionellen Helfer verwendet. Es wird keinen Notarzt/ärztin, Rettungsassistenten/in, Krankenschwester oder Krankenpfleger geben, der diese Formulierung gegenüber den Angehörigen eines gerade verstorbenen Menschen verwendet.
Und noch ein Wort an die Presse:
Es stünde den akkreditierten Journalisten gut zu Gesicht, sich bei Formulierungen, die nicht im allgemeinen Sprachgebrauch verankert sind, sich über ihre Bedeutung und Ursprung zu informieren. Man nennt dies auch „Recherche“. Dass während der Berichterstattung zum NSU-Prozess die Recherche auf der Strecke bleibt, merke ich nach jedem Prozesstag, den ich besucht habe. Ich brauche normalerweise knappe 5 Minuten nach dem Ende eines Verhandlungstages, bis ich meinen Krimskrams an der Sicherheitsschleuse in Empfang genommen habe und mein Smartphone hochgefahren ist. Noch bevor meine Fotoausrüstung startklar ist, kann ich in den oben zitierten Zeitungen nachlesen, was noch vor 5 Minuten verhandelt wurde. Schnelligkeit ist faszinierend. Geschwindigkeit und Recherche dürfen sich aber nicht ausschließen. Gerade die „großen“ unter den Prozessberichterstattern haben gigantische Personalressourcen im Hintergrund zur Verfügung, die durchaus die Recherche während Berichterstattung übernehmen können. Schnell können wir Blogger auch, die Recherche müssen wir nach der Verhandlung machen. Also liebe Qualitätsmedien: Bitte mehr nachforschen. Sonst ist der Unterschied zwischen einem guten Blog und einem Bericht der „großen“, etablierten Medien nur noch minimal. Und genau das wollt ihr doch nicht, oder?
Der BMW, der offiziell existiert.
Anschließend hätte die Zeugin eine Frau befragt, die sich auf dem in der Nähe des Tatorts befindlichen Parkplatz der EDEKA aufhielt, befragt. Diese Frau hätte ihr gesagt, dass sie etwa 15 Minuten vorher „einen dumpfen Knall“ gehört habe. Der Leiter der EDEKA-Filiale hätte von einem BMW, der mit vier jungen Leuten besetzt war, berichtet. Er hätte sich noch daran erinnert dass das Autokennzeichen mit „LAU“ (Landkreis Nürnberger Land in Lauf an der Pegnitz). Dieser BMW sei etwa 20 Minuten später wieder am Imbiss vorbeigefahren. Dabei seien die Personalien der vier Insassen festgestellt worden, die aber zu keinem Verdachtsmoment zu einer Tatbeteiligung geführt hätte.
Richter Götzl will nun Informationen zur Person, der die Polizei verständigt hat. Der Mitteiler wäre vor Ort gewesen, er hätte auch häufig dort gegessen. Weil er Yaşar nicht gleich entdeckt habe, hätte er eine gewisse Zeit gewartet und sich dann in den Döner-Imbiss hineingebeugt. Erst so hätte er das Mordopfer Yaşar entdecken können. „Wenn man direkt vor dem Imbiss steht, konnte man das Opfer nicht sehen,“ so die Zeugin weiter.
Wieder einmal: Widersprüchliche Aussagen ein- und derselben Zeugin.
Götzl zitiert aus der ersten Vernehmung der Zeugin demnach hätte sie damals ausgesagt, dass der Mitteiler einmal in der Woche zum Döner-Imbiss gegangen wäre und sich um 10:15 Uhr einen Döner kaufen wolle.
„Dann wird das so gewesen sein, wenn es so im Sachverhalt steht“, antwortet die Zeugin.
Wie das Opfer gelegen sei, will Götzl jetzt von der Zeugin wissen. Yaşar habe hinter dem Tresen auf dem Boden gelegen, so die Zeugin. Über dem Kopf habe ein Arm schräg gelegen, Oberkörper und Kopf hätten in einer großen Blutlache gelegen, so die Zeugin weiter.
Der Bürostuhl: Keine Erinnerung, aber im alten Protokoll vermerkt.
Götzl fährt mit einem Vorhalt fort, nachdem die Zeugin J. von einem Bürostuhl berichtet hätte.
„Ich kann mich jetzt an keinen Bürostuhl erinnern, aber ich habe im Sachverhalt gelesen, dass auf der Sitzfläche ein Blutfleck war,“ antwortet die Zeugin.
Wortgefechte wegen widersprüchlichen Aussagen.
Auf diese Antwort der Zeugin entsteht ein kurzes, aber heftiges Wortgefecht zwischen Zschäpe-Verteidiger RA Heer und Richter Götzl. Der Grund sind die wiederholten Vorhaltungen aus den Ermittlungsakten, die sich häufig nicht mit den aktuellen Aussagen der Zeugen decken. Aber immer wieder dazu führen, dass die protokollierte Erstaussage in der aktuellen Verhandlung gilt.
Zschäpe-Verteidiger RA Wolfgang Heer – Foto: J. Pohl
Götzl blockt den Streit recht schnell ab und will näheres zu den am Tatort sichergestellten Patronenhülsen wissen.
„Ich hab eine Hülse am Toten gesehen, vielleicht auch eine Zweite,“ so die Zeugin.
Götzl: „Wo?“
Zeugin J.: „Bin mir nicht sicher, denke in Höhe Gesäß oder Rumpf.“
Götzl mit Vorhalt aus alter Ermittlungsakte: „Hülse in Höhe des Oberkörpers“
Götzl fragt weiter: „Waren Sie in der Döner-Bude?“
Zeugin J.: „Nein nur der Kollege. Ist dabei aus Versehen auf die Schürze getreten.“
Juristensprache: Geschädigter = Mordopfer
Götzl: „Was ist dann mit dem „Geschädigten“ geschehen?“ (Anm.: Damit ist der ermordete Ismail Yaşar gemeint)
Zeugin J.: „Kann ich nicht sagen, dann kam schon die Mordkommission.“
Götzl erwidert mit einem erneuten Vorhalt: „ASB und der Notarzt waren um 10:25 Uhr vor Ort.“
Die Zeugin bestätigt Götzl mit einem Kopfnicken.
Götzl fährt mit seinem Vorhalt fort: „Ein Sani hat eine Hülse aufgehoben und dann wieder hingelegt.“
„Ja, das stimmt. Er hat deswegen auch einen Anschiss bekommen,“ antwortet die Zeugin und erntet Gelächter im Saal.
Das Pärchen mit dem sächsischem Slang: Unterstützer von Wohlleben?
Offenbar sind in der Zwischenzeit wieder Sitzplätze auf der Tribüne frei geworden, denn mitten in der Verhandlung kommt in diesem Moment das am Anfang erwähnte Pärchen mit dem sächsischen Dialekt auf mich zu. Der weibliche Part baut sich vor meinem Sitzplatz direkt an der Glasscheibe zum Gerichtssaal auf und stellt mich zur Rede: „Also ich finde das eine Unverschämtheit von Ihnen, dass Sie sich auf unseren Platz setzen. Wir sitzen immerhin schon seit 07:30 hier. Und nur weil wir zum Pullern (sic!) mussten, sind unsere Plätze besetzt.“ Ich konnte nur kurz erwidern, dass mir dieser Platz von einem Justizbeamten zugewiesen wurde, dann wurden die beiden mit sanftem Druck von einem Beamten auf die hinteren Plätze verwiesen. Während die sächselnde Frau mich zurechtwies, tauschte der männliche Part mittels Handzeichen Nettigkeiten (?) mit Ralf Wohlleben aus.
„Ehefrau war mit den Nerven fertig.“
Götzl: „Hatten Sie am Tatort Kontakt zu anderen Personen?“
Zeugin J.: Ja, mit den vier Jugendlichen aus dem BMW und mit der Frau des Verstorbenen.“
Götzl: „In welcher Verfassung war die Frau?“
Zeugin J.: Sie war mit den Nerven ziemlich fertig und ist auch etwas lauter geworden.“
Richter Götzl bittet die Polizeiobermeisterin J. an den Richtertisch um eine Skizze des Tatorts zu erklären.
Damit ist die Befragung durch Richter Götzl beendet. Das Fragerecht hat nun der Nebenklage-Anwalt RA Narin.
Der BMW, der offiziell nicht existiert.
RA Narin: „Ich möchte noch mal auf den BMW eingehen.“
Zeugin J.: „Es wurde von einem dunklen BMW mit vier Jugendlichen berichtet. Nach 20 Minuten ist der BMW wieder am Tatort vorbei gefahren und wurde kontrolliert.“
RA Narin: „Ist jemals von einem bordeauxroten BMW-Kombi die Rede gewesen?“
Zeugin J.: „Nicht, dass ich wüsste …“
RA Narin erwidert mit einem Vorhalt aus einem Aktenvermerk: „Aus dem Vermerk geht hervor, dass es sich bei dem bordeauxroten BMW-Kombi um ein Zivilfahrzeug eines Polizisten handelt.“
Zeugin J.: „Das ist das erste Mal, dass ich davon höre.“
„Danke keine weiteren Fragen.“ Damit beendet RA Narin seine Befragung der Zeugin J.
Götzl entlässt die Zeugin um 10:45 Uhr, da sich keine weiteren Fragen anschließen.
RA Narin – Foto: J. Pohl
Was war los? Falsches Protokoll, oder Falschaussage der Zeugin?
Wieder bleibt ein fader Nachgeschmack nach einer Vernehmung einer Polizeibeamtin zurück. Warum kann sich die Polizeiobermeisterin J. ausgerechnet an den bordeauxroten BMW-Kombi nicht erinnern, nachdem sie während der Vernehmung ungewöhnlich oft erwähnt hatte, kurz vor ihrer Aussage den Sachverhaltsbericht gelesen zu haben.
Wieder kann es prinzipiell dazu nur zwei Schlussfolgerungen geben:
Entweder wird der bordeauxrote BMW-Kombi, mit dem immerhin ein Polizeibeamter zur ungefähren Tatzeit in unmittelbarer Nähe des Tatorts gesehen wurde, im Sachverhaltsbericht nicht erwähnt. Wenn diese Fahrzeug nicht erwähnt wurde, warum nicht?
Oder: Die Zeugin J. hat die Frage von RA Narin nicht wahrheitsgemäß beantwortet. Falls die Zeugin gelogen hat, warum hat sie die Unwahrheit gesagt?
Zschäpe schwer bewacht auf dem Weg vom Gericht in die U-Haft. – Foto: J. Pohl
Die Zeugenaussage des Mordermittlers Josef Wilfling, ein Anwalt der zum eigentlich Kern des NSU-Skandals vordringt und eine Erklärung mit den richtigen Worten zur richtigen Zeit.
Tägliche Routine: Zschäpe schwer bewacht auf dem Weg ins Gericht. – Foto: J. Pohl
Am 22. Prozesstag geht es um die Ermordung des Münchner Ladenbesitzers Habil Kiliç. Kiliç ist das vierte Mordopfer des NSU, er wurde am 29. August 2001 in seinem Laden in der Bad-Schachener-Straße 14 in Münchner Osten durch zwei gezielte Kopfschüsse buchstäblich hingerichtet. Nicht einmal 100 Meter vom Tatort entfernt befindet sich eine Polizeiwache. Die Polizeibeamten haben gerne und oft im Laden von Habil Kiliç ihre Brotzeit eingekauft.
Der Mordermittler Josef Wilfling: Eine Institution der Gerechtigkeit?
Der Verhandlungstag beginnt mit der Vernehmung des pensionierten Kriminaloberrats Josef Wilfling. Der 66-Jährige war bis zu seiner Pensionierung über Jahrzehnte als der führende und bekannteste Mordermittler der Münchner Mordkommission tätig. Vor seiner Pensionierung war Wilfling der langjährige Chef der Mordermittler in München. Zu seinen spektakulärsten Fällen zählen der Mord an Walter Sedlmayer, Rudolf Mooshammer und die Ermittlungen gegen den Schauspieler Günther Kaufmann. Josef Wilfling galt im Raum München und weit darüber hinaus als ein über jeden Skandal erhabenen, kompetenten und gerechten Mordermittler. Wilfling war nicht nur Mordermittler, er war eine Institution. Seit der Aufdeckung der NSU-Terrorzelle und den – nennen wir sie einfach mal „Ermittlungspannen“ – zeigen sich jedoch Risse im Denkmal Josef Wilfling. Der weitere Prozessverlauf wird zeigen, ob es bei Rissen bleibt, oder ob das Denkmal Josef Wilfling zu Staub zerfällt.
Mordermittler Josef Wilfling – Foto: J. Pohl
Von falschen, frei erfundenen und richtigen Zeugenaussagen
Wilfling berichtet anfangs über Zeugenvernehmungen, die sich im Laufe der weiteren Ermittlungen als nicht zutreffend oder auch als frei erfunden herausstellten. Im weiteren Verlauf schilderte er Aussagen von zwei Zeuginnen, die in unmittelbarer Nähe des Tatorts wohnten. Beide hätten zwei Personen auf Fahrrädern beobachtet. Die eine Zeugin hätte beobachtet, wie die beiden Radfahrer gegen 09:30 an ihrer Wohnung vorbei in Richtung Tatort fuhren, die andere Zeugin hätte ausgesagt, dass zwei Männer mit Fahrrädern sich um ca. 10:45 in die entgegengesetzte Richtung vom Tatort entfernten.
Beide konnten keine detaillierte Personenbeschreibung abgeben, eine Zeugin hätte die Radler seitlich von hinten beobachtet. „Sie wirkten wie Fahrradkuriere“, so die Aussage einer der Zeuginnen.
Warum „Eigensicherung“ bei einer Zeugenfahndung?
Aufgrund der Zeugenaussagen wurden die Radfahrer per Fahndung gesucht. Wilfling betont in seiner Aussage, dass er zu diesem Zeitpunkt die Radler für wichtige Tatzeugen hielt und deswegen die Fahndung einleitete. Dass Wilfling die Fahndung mit dem ausdrücklichen Hinweis auf Eigensicherung der Fahnder herausgab, ist zumindest bemerkenswert, da es sich um eine Fahndung nach Zeugen und nicht nach Tatverdächtigen handelte.
Keine Anhaltspunkte für Tatbeteiligung der Radler – keine Frage zur Eigensicherung.
Wilfling betont nochmals, dass es keine Anhaltspunkte für eine Tatbeteiligung der beiden Radfahrer gab. Warum Wilfling ausdrücklich die Anweisung zur Eigensicherung im Rahmen einer Zeugenfahndung gab, wurde leider von keinem der Prozessteilnehmer hinterfragt.
Hingerichtet durch zwei Kopfschüsse
Kiliç wurde durch zwei Kopfschüsse getötet, so Wilfling weiter. Die Täter müssen durch die vordere Tür den Laden betreten haben, denn die hintere Tür war versperrt. Kiliç stand hinter der Verkaufstheke. Der erste Schuss traf Kiliç im Stehen. Das erste Projektil trat in der linken, oberen Wangenregion in den Schädel ein, durchschlägt den Gesichtsschädel und tritt hinter dem Ohr wieder aus. Der zweite Schuss traf das Opfer im Liegen. Das Geschoss schlug am Hinterkopf ein, durchschlug den Schädel und trat an der Stirn über dem rechten Auge wieder aus. Habil Kiliç verstarb während der Reanimation durch den Notarzt und Rettungsassistenten. Er wurde 38 Jahre alt.
Ein Projektil wurde kurz nach Eintreffen der Polizei und der sich anschließenden Spurensicherung vor dem Laden auf dem Gehweg gefunden. Vermutlich wurde das Projektil während der Notfallversorgung und Reanimation durch den Rettungsdienst unabsichtlich dorthin verbracht, so Wilfling. Von der zweiten Kugel fehlte anfangs jede Spur.
Keine Spuren der Täter im Laden
Die Tatortermittler untersuchten im gesamten Laden „jeden Quadratzentimeter“ so Wilfling. Jedes Regal, jede Obstkiste, jeder Schrank wurde akribisch abgesucht, jedoch wurden keine Patronenhülsen gefunden. Auch die Untersuchung auf Fingerabdrücke und DNA-Proben ergaben keinerlei tatrelevanten Hinweise. Die Ermittler konnten auch sonst keine Spuren finden, die von den Tätern stammten.
Die Sache mit dem Plastikschnipsel
Nur ein kleiner „Plastikschnipsel“ könnte mit dem Mord in Zusammenhang stehen. Dieser Plastikschnipsel könnte von einer Plastiktüte stammen, in der die Tatwaffe eingewickelt war. Die Mörder haben vermutlich die Schüsse mit der in einer Plastiktüte verpackten Ceska 83 abgegeben. So könnte man erklären, dass die Patronenhülsen unauffindbar blieben. Außerdem erregten die Täter durch die getarnte Waffe keinen Verdacht beim arglosen Mordopfer, erklärt Wilfling schlüssig.
Kein Raubmord, sondern eine professionelle Hinrichtung
Es handelte sich hier um eine „absolut professionelle Hinrichtung“ sagt Wilfling. Ein Raubmord konnte recht schnell mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Die Geldbörse des Opfers befand sich in seiner Hose, die Kasse war gefüllt und das Geld ordentlich sortiert. Es befanden sich genau 216.- DM darin.
Richter Götzl fordert nun Wilfling auf, die Lichtbilder des Tatorts zu erläutern und bittet ihn dazu an den Richtertisch.
Die Tatortfotos
Die Präsentation beginnt mit Fotos der Umgebung des Tatorts. Wilfling erklärt ausführlich den vermutlichen Weg, den die Radfahrer zum Tatort befuhren. Auch den möglichen Fluchtweg beschreibt Wilfling ausführlich. Er stützt sich dabei auf die Zeugenaussagen der Nachbarinnen, weitere Beweise gibt es nicht.
Die nächsten Fotos zeigen den Eingang des Ladens, die Auslagen, das Warenangebot, die Obstkisten. Alles erscheint in tadellosem Zustand, der Laden war gut geführt und sauber. Das betont Wilfling immer wieder.
Verstörende Aufnahmen zeigen den hingerichteten Habil Kilic.
Das nächste Bild: Mitten im sonst so aufgeräumten Laden liegt die Leiche von Habil Kiliç in einer riesigen Blutlache. Das Mordopfer liegt auf dem Rücken, das linke Bein ist angewinkelt. Das Gesicht blutverschmiert, aus dem rechten Mundwinkel hängt noch der Tubus, den der Notarzt zur Reanimation in der Luftröhre platziert hat. „Todesursache: Kopfschuss“ hätte der Notarzt nach der erfolglosen Reanimation noch gesagt, erklärt Wilfling. Das gesamte Areal rund um den Leichenfundort ist mit Blutspritzern verschmutzt. Es findet sich Blut am Boden, an den Schränken, in der Warenauslage, über der Kühltheke, sogar an der Decke finden sich Blutanhaftungen. Weitere Bilder zeigen in Nahaufnahmen die Ein- und Ausschusswunden am Schädel.
Die Täter kamen durch die offene Eingangstür.
Die Tatrekonstruktion hätte ergeben, dass der Täter von links auf Kiliç geschossen hat, als dieser hinter der Theke stand. Die vordere Eingangstür stand vermutlich offen, denn es war am Tattag warm. Dann ließ Kiliç die Tür immer offen stehen sagt Wilfling. Auch ein Foto soll beweisen, dass die Tür offen stand. Ein weiteres Foto zeigt das erste Projektil – Kaliber 7,65 mm -, dass auf dem Gehweg vor dem Laden gefunden wurde.
Nirgendwo eine verwertbare Spur.
Weitere Fotos zeigen die gefüllte Kasse, den kleinen Aufenthaltsraum im hinteren Bereich des Ladens und die verschlossene Hintertür. Nirgendwo fanden sich irgendwelche Auffälligkeiten erklärt Wilfling nochmals.
Das vermisste Projektil – endlich gefunden.
Lediglich das Foto eines an der Wand befestigten und mit einem Spiegel verzierten alten Kummet zeigt kleine Beschädigungen an der Seite, die von dem zweitem Projektil stammen könnten. Das Projektil wurde schließlich gefunden. Es steckte in der Theke, wie ein weiteres Foto zeigt.
Nur zwei Haare wurden gefunden.
Fotos von der Eingangstür zeigen die Suche nach Fingerabdrücken und verwertbarem DNA-Material. Sämtliche Spuren waren nicht auswertbar, der Erkennungsdienst hätte den Tatort über mehrere Tage untersucht, so Wilfling.
Außer den Projektilen fanden sich im Laden keinerlei tatrelevanten Spuren. Auch zwei Haare wurden gesichert und kriminaltechnisch untersucht. Auch diese Spur erwies sich als nicht relevant.
Am Grundriss des Ladens inklusive der Lage des Leichnams erklärt Wilfling nochmals den Standort der Täter und des Opfers zum Zeitpunkt der ersten Schussabgabe.
Die Wohnung der Familie – vom Erkennungsdienst verwüstet.
Auch die Wohnung der Familie Kiliç wurde vom Erkennungsdienst untersucht. Viele Fotos zeigen die Wohnungseinrichtung, den Zustand der Wohnung und lassen den Schluss zu, dass es sich um eine ganz normale Wohnung einer ganz normalen Familie handelt. Lediglich das durch die Ermittler praktisch überall aufgebrachte schwarze Fingerabdruckpulver zur Sicherung daktyloskopischer Spuren stört den Gesamteindruck erheblich.
In der Wohnung fanden sich ebenfalls keinerlei Spuren, die mit dem Mord in Verbindung stehen könnten, so Wilfling.
Um 10:35 ordnet Richter Götzl eine Verhandlungspause von 20 Minuten an.
Nach den Leichenfotos: Heitere Pausengespräche zwischen Zschäpe und ihren Verteidigern.
Zschäpe-Verteidigerin RAin Anja Sturm – Foto: J. Pohl
Während der Pause läuft im Gerichtssaal das übliche Schauspiel ab. Die im Saal anwesenden Angeklagten beschäftigen sich mit ihren Laptops, unterhalten sich mit ihren Anwälten, es wird oft gelacht. Auch Beate Zschäpe macht einen äußerst entspannten Eindruck und macht Scherze mit ihren Anwälten RA Heer und RAin Sturm. Beide gehen offensichtlich auf die Scherze ihrer Mandantin ein. Die verstörende Präsentation der Tatortfotos und der Fotos des blutüberströmten hingerichteten Habil Kiliç scheint weder bei den Angeklagten, noch bei der Verteidigung einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben.
Um 11:05 Uhr eröffnet Richter Götzl wieder die Verhandlung mit der weiteren Vernehmung des Zeugen Josef Wilfling.
Zschäpe-Verteidiger RAin Sturm und RA Heer – Foto: J. Pohl
Wilfling wird von der Nebenklage vernommen.
Nun ist die Nebenklage an der Reihe, Wilfling zu befragen. RA Scharmer beginnt mit der Befragung und will von Wilfling wissen, warum er die beiden Projektile dem BKA per Eilsendung zugeschickt hat. „Das lag in der Mordserie begründet“ so die knappe Antwort von Wilfling. Scharmer will es genauer wissen: „Was wussten Sie von der Serie?“ Wilfling betont, dass er über seinen Wissensstand zur damaligen Tatzeit im Jahr 2001 berichten wird: „Über meinen Kenntnisstand 2001 zur Mordserie habe ich keine genauen Erinnerungen mehr. Ich erinnere mich an die Morde in den Jahren 2000 und 2001 in Nürnberg. Das hätten auch unsere Fälle sein können. Wir wollten wissen, ob in dieser Serie die gleiche Waffe verwendet wurde. So etwas ist normale Ermittlungsroutine.“
Parallelen zu anderen Morden?
RA Sebastian Scharmer – Foto: J. Pohl
Scharmer will wissen, ob Wilfling Parallelen zu den anderen Opfern gezogen habe. „Ja klar. Das waren alles türkische Opfer“, antwortet Wilfling professionell. Ob er noch weitere Zusammenhänge in Erwägung gezogen habe, hakt Scharmer nach.
Wilfling zählt eine Reihe von Mordfällen auf, bei denen türkische Mitbürger die offenbar mit der Drogenszene in Kontakt standen unter ähnlichen Umständen zu Tode kamen. So sei zur damaligen Zeit in Heilbronn ein Türke ermordet worden, der wegen Drogendelikten auffällig war. Auch in Aachen sei ein Türke, der mit Drogenhandel zu tun hatte, erschossen worden. Auch in Kassel seien Türken aus dem Drogenmilieu durch Schüsse getötet worden. „Mit einer Waffe Kaliber 7,65 mm“, fügt Wilfling hinzu. Auch die jetzt dem NSU-Trio zugerechneten Morde in Nürnberg und Hamburg hätten bei den damaligen Ermittlungen den Verdacht in Richtung Drogenszene gelenkt.
Wilfling rechtfertigt seine Ermittlungen im Drogenmilieu.
Es ist offensichtlich, dass Wilfling versucht, mit diesen Beispielen den Grundstock für seine Rechtfertigung zu Ermittlungen in der Drogenszene im Zusammenhang mit dem Mord an Habil Kiliç zu legen.
Die Bestätigung dazu folgt im direkten Anschluss: „Auch Kiliç hat kurz vor seiner Ermordung mit einem Drogenhändler telefoniert“, so Wilfling weiter. Außerdem hätte Kiliç Probleme mit türkischen Landsleuten gehabt, zitiert Wilfling eine Zeugenaussage.
Mordermittlungen immer von innen nach außen.
RA Scharmer hat offenbar genug von der Drogentheorie und fragt Wilfling, ob er im Mordfall Kiliç auch andere Theorien überprüft habe. Wilfling doziert, dass man bei einem Mord immer „von innen nach außen“ ermittelt. Deswegen wurde als erstes das familiäre Umfeld untersucht. Es habe sich jedoch recht schnell gezeigt, dass die Familie Kiliç unverdächtig sei. Die einzige Gemeinsamkeit mit den anderen Mordfällen sei die Waffe gewesen.
Die Rechtfertigung für die Ermittlungen im türkischen Umfeld.
Ob es irgendwelche Auffälligkeiten im Leben von Habil Kiliç gegeben hätte, will Scharmer noch wissen. Kiliç wäre ausschließlich in der türkischen Community unterwegs gewesen. Deutsche Freunde hätte er keine gehabt. Deswegen sei es nur logisch, dass man anfangs die Ermittlungen auf das türkische Umfeld konzentriert habe, rechtfertigt sich Wilfling.
„Gab es damals eine Abklärung mit den Nürnberger Dienststellen?“ hakt Scharmer weiter nach. Die Nürnberger Kollegen, die in den Mordfällen Şimşek und Özüdoğru ermittelten seien sofort kontaktiert worden. Später sei auch die SOKO „Bosporus“ eingerichtet worden, auch das BKA wurde involviert, so Wilfling.
Abschließend hält Scharmer Wilfling seine damalige Aussage aus den Ermittlungsakten vom 1. September 2001 vor: „Ein Tatzusammenhang mit den Radfahrern ist nicht erkennbar.“
Heute weiß ich es besser.
Wilfling bestätigt und konkretisiert seine Aussage: Ein Zusammenhang mit den beiden Radfahrern sei damals zumindest im Fall Kiliç nicht erkennbar gewesen. Dass ein begründeter Verdacht gegen die Radfahrer in Nürnberg vorlag, hätte sich erst später gezeigt. „Heute weiß ich es besser, damals war das für uns nicht erkennbar.“ Wilfling erscheint bei dieser Aussage aufrichtig, sein Ärger über seine damalige Fehleinschätzung wirkt absolut echt. Es ist ihm anzumerken, wie unangenehm ihm diese Angelegenheit ist. Wilfling erkennt zurecht, wie sehr diese Angelegenheit seinen hohen Ansprüchen als Mordermittler geschadet hat.
Eine Anwältin der Nebenklage will von Wilfling wissen, aus welcher Entfernung die Schüsse auf Kiliç abgefeuert wurden. Die Schüsse wurden mit Sicherheit aus einer Entfernung von nicht unter 50 cm abgegeben. Somit handelt es sich hier nicht um „Nahschüsse“, erklärt Wilfling.
Ob Kiliç sich gewehrt habe, fragt die Anwältin. „Darauf gibt es keine Hinweise“, antwortet Wilfling.
RA Narin ist der nächste Anwalt der Nebenklage, der Fragen an Wilfling stellt. Ob Wilfling sich damals mit dem Mordfall Şimşek befasst habe, lautet seine erste Frage. Wilfling antwortet: „Ja, das wurde damals als normaler Mordfall behandelt. Erst beim zweiten Mord ergaben sich Hinweise auf eine eventuelle Mordserie.“ Narin hakt nach: „Können Sie sich im Zusammenhang mit dem Mord an Enver Şimşek an Zeugenaussagen zu Radfahrern erinnern?“ Zum damaligen Zeitpunkt hätte er dazu keine Erinnerungen, so Wilfling.
RA Narin – Foto: J. Pohl
RA Narin hält Wilfling eine Zeugenaussage zum Mord an Habil Kiliç vor. Laut dieser Aussage sei eine Person aus dem Laden gelaufen, in einen Mercedes gestiegen und mit quietschenden Reifen davon gefahren. Bei dieser Person hätte es sich um einen „Mulatten“ gehandelt, so Narin weiter. Richter Götzl mischt sich ein: „Dieser Vorhalt ist nicht korrekt.“
Wilfling antwortet trotzdem. Er glaube, dass auch Narin diese Aussage, die im Übrigen von zwei Zeuginnen unabhängig voneinander zu Protokoll genommen wurde, nicht anders eingeordnet hätte, wie er selbst zum damaligen Zeitpunkt. „Es ist völlig normal, dass sich aufgrund dieser Aussagen die prioritäre Spur ergeben hat. Außerdem haben andere Zeugen die beiden Radfahrer als Kurierfahrer beschrieben. Es hat eben etwas Zeit gebraucht, bis wir festgestellt haben, dass diese Aussagen falsch und vermutlich frei erfunden waren.“
Zeugenaussage: Der Türke mit dem Mongolenbart
Ein weiterer Vorhalt von RA Narin aus den Ermittlungsakten bezieht sich auf eine Zeugenaussage, dass ein Tatverdächtiger vermutlich ein Türke war, denn er hätte einen „Mongolenbart“ getragen. „Ja, das war der Zeuge Sch. – ein Rentner -, der aussagte, das könnte ein Türke sein.“ Wilfling erklärt, dass aufgrund dieser Aussage sogar ein Phantombild für die Fahndung angefertigt worden sei. Wilfling widerspricht Narin: „Diese Person war nicht tatverdächtig, er konnte niemals ermittelt werden. Im Übrigen kann man auch nach Tatzeugen mit Phantombildern fahnden.“
Die Radfahrer waren für Ermittler in erster Linie Zeugen.
RA Rabe – Nebenklage Mandantschaft Şimşek – setzt die Befragung fort. Wie Wilfling die beiden Radfahrer überprüft hätte, so seine erste Frage. „Wir haben nach ihnen gefahndet, die Zeugen konnten keine detaillierte Beschreibung abgeben. Aus dem Blickwinkel der damaligen Erkenntnisse zur Tatzeit waren die Radler für uns in erster Linie Zeugen. Außerdem haben die beiden Zeuginnen die Radfahrer als Fahrradkuriere beschrieben.“
RA Rabe mit der Witwe von Enver Simsek – Foto: J. Pohl
Nach RA Rabe meldet sich nochmals RA Narin zu Wort und will von Wilfling wissen, welche konkreten Maßnahmen denn zur Ermittlung der Radfahrer getroffen wurden. „Zusätzlich zur Fahndung wurde die Presse eingeschaltet. Die Radfahrer sollten sich als Zeugen melden. Auch hier ergaben sich keinerlei Hinweise“, so Wilfling.
Wilflings legendärer Satz: Neonazis und Fahrräder.
RA Narin spricht nun Wilflings Aussage im NSU-Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags vom 19. Februar 2013 an. Es ist offensichtlich, dass es Wilfling völlig klar ist, dass sein legendärer Satz, („Haben Sie schon einmal einen Neonazi auf dem Fahrrad gesehen?“), der in allen Medien kolportiert wurde, heute zur Sprache kommen wird.
„Die Frau Tausendfreund von den Grünen wollte immer wieder wissen, warum ich die Radfahrer nicht als Neonazis erkannt habe. Dann habe ich dummerweise diesen Satz gesagt: ‚Haben Sie schon einmal einen Neonazi auf dem Fahrrad gesehen?'“
Angespannte Stille nach einer scheinbar harmlosen Frage der Nebenklage.
RA Daimagüler, der die Tochter des am 9. Mai 2005 in seinem Döner-Imbiss in Nürnberg erschossenen İsmail Yaşar (6. Mordopfer des NSU) vertritt, setzt die Befragung fort. „Sie haben also die zwei Radfahrer über die Medien als Zeugen gesucht?“ „Ja, sie haben sich aber nicht gemeldet“ so Wilfling. „Hat Sie das nicht gewundert?“ hakt Daimagüler nach.
Auf diese Frage schließt sich ein längeres Schweigen an. Im Gerichtssaal herrscht absolute Stille. Auch aus dem Pressebereich auf der Besuchertribüne herrscht angespannte Ruhe. Selbst die allgegenwärtigen Tippgeräusche sind nicht mehr zu hören. Worauf sich die letzte Frage von Daimagüler bezieht, ist offensichtlich jedem klar. Mit Spannung wird Wilflings Antwort erwartet.
RA Daimagüler – Foto: J. Pohl
50 Prozent aller Zeugenaussagen erweisen sich als falsch.
Nach einer gefühlten Ewigkeit antwortet Wilfling: „Ich habe mir nicht vorstellen können, dass das die Täter waren.“ Wieder Schweigen. Wilfling fährt mit seiner Erwiderung auf Daimagüler fort: „Es wird jetzt immer wieder der Fehler gemacht, dass der Wissensstand von heute mit den Erkenntnissen von damals gleichgesetzt wird. Sie müssen bedenken, dass 50 Prozent aller Zeugenaussagen falsch sind.“
Auf Wilflings Antwort folgt ein Streit zwischen RA Daimagüler und Richter Götzl. Götzl will wissen wohin die Frage von Daimagüler hinführen soll. Daimagüler antwortet knapp: „Das werden Sie gleich merken.“
„Haben Sie sich auch Gedanken über einen politischen Hintergrund gemacht?“, fragt Daimagüler unbeeindruckt von Götzls Einwurf weiter.
Keine Hinweise bei PKK und Grauen Wölfen
Es wären etwa 50 Zeugen befragt worden, die meisten davon wären Türken gewesen, so Wilfling. Diese Befragungen hätten immer wieder Hinweise auf politische Organisationen, wie der PKK und den Grauen Wölfen sowie in den Bereich der organisierten Kriminalität ergeben. Ein Zeuge hätte ausgesagt, dass ein „Türkenhasser“ hinter der Tat stecken könnte. Der Zeuge hätte damit aber die PKK gemeint antwortet Wilfling geduldig. Wilfling weiter: „Wir haben uns 48 Morde aus dem rechtsradikalen Milieu genauer angeschaut. Auch da gab es keine Parallelen zum Mord an Habil Kiliç. Dagegen gab es aus dem Bereich OK (Anm.: organisierte Kriminalität) haufenweise Hinweise.“
Als ob es hier keine türkische Drogenmafia geben würde.
RA Daimagüler setzt zu einer Frage an. Wilfling fährt mit seiner Antwort in deutlich lauterem Tonfall fort, bevor Daimagüler seine Frage stellen kann: „Jetzt sollen wir doch nicht alle so tun, als ob es hier keine türkische Drogenmafia geben würde. Dazu zählen auch Spuren nach Holland. Auch Şimşek hatte Verbindungen nach Holland.“
Kiliç war ein untadeliger Mann.
Daimagüler unterbricht Wilfling: „Gab es auch bei Kiliç Hinweise auf Verbindungen nach Holland?“ „Nicht bei Kiliç aber eben bei Şimşek. Allerdings hatte auch Kiliç Kontakte zu A. (Anm.: Ein Drogendealer, der mit Kiliç in der Großmarkthalle zusammenarbeitete). Auch dieser Kontakt erwies sich als nicht relevant.“ Wilfling muss für seine weitere Antwort eine kurze Pause einlegen. Deutlich gefasster fährt Wilfling mit seiner Antwort fort. „Kiliç war ein fleißiger, untadeliger Mann. Er war ein kreuzbraver, arbeitsamer und humorvoller Mensch.“
Bundesanwalt: „Angeklagt ist hier immer noch Fr. Zschäpe und nicht Wilfling.“
GBA Diemer unterbricht die Befragung mit einer der momentanen Situation völlig unangemessenen Aggressivität: „Worum geht es hier eigentlich? Die Anklage geht immer noch davon aus, dass Böhnhardt und Mundlos die Täter sind. Angeklagt ist Fr. Zschäpe als Mittäterin. Es soll hier um die Taten gehen und nicht um vermeintliche Ermittlungsfehler des Zeugen.“
RA Rabe erwidert auf den Einwand von Diemer: „Es steht doch außer Frage, dass die Anklage keine Ahnung davon hat, wie die Täter ihre Opfer ausgewählt haben.“
„Die Anklage geht davon aus, dass die Nationalität der Opfer das Auswahlkriterium waren. Ich fordere die Nebenklage dazu auf, sich auf die Anklagevorwürfe zu beschränken“ weist GBA Diemer RA Rabe zurecht.
RA Rabe ignoriert Diemers Angriff auf die Nebenklage: „Wenn hier in der Verhandlung ein Polizeibeamter suggeriert, die Mordopfer hätten einen kriminellen Hintergrund, dann ist es die Pflicht der Nebenklage dies zu hinterfragen.“
RA Kuhn will wissen, ob die gefüllte Kasse und die unangetastete Geldbörse von Habil Kiliç die einzigen Indizien waren, um einen Raubmord auszuschließen.
„Der Kernpunkt unserer Ermittlungen war: Könnte Kiliç in ‚irgendetwas hineingeraten sein‘. Kiliç hatte eine prekäre finanzielle Lage. Er hatte in der Großmarkthalle gearbeitet, und die ist als Drogenumschlagsplatz bekannt. Wir haben auch ermittelt, ob es sich um ein Auftragsdelikt handeln könnte. Es sind auch Finanzermittlungen angestellt worden“, so Wilfling.
RA Erdal erinnert an den eigentlichen Kern des NSU-Skandals.
RA Erdal setzt die Befragung von Josef Wilfling fort: Er beginnt seine erste Frage in einem bemerkenswert ruhigen Tonfall: „Herr Wilfling, wie lange sind Sie eigentlich schon im Dienst?“ Wilfling stutzt, er will von Erdal wissen, wie diese Frage genau gemeint ist: „Meinen Sie zum Tatzeitpunkt oder überhaupt?“ Richter Götzl mischt sich wieder ein: „Wo soll diese Frage wieder hinführen?“ Sowohl Erdal als auch Wilfling gehen auf Götzls Einwand nicht weiter ein.
Wilfling geht offenbar davon aus, dass Erdal von ihm wissen möchte, wie lange er schon im Polizeidienst ist: „Seit 1966 …“
RA Erdal unterbricht Wilfling in einem äußerst scharfen und lauten Tonfall: „Wenn Sie schon so lange im Polizeidienst sind, haben Sie eigentlich die Brandanschläge auf Türken in Solingen und Mölln mitbekommen?“
Bevor Wilfling antworten kann, wendet sich Richter Götzl in ähnlichem Ton an Erdal: „Was hat Mölln und Solingen mit unserem Fall hier zu tun?“
RA Erdal ignoriert Götzl und fährt noch lauter mit seiner Befragung fort. „Es gibt hier in Deutschland viele kranke Menschen, die sich als Herrenmenschen bezeichnen. Wissen Sie das?“ Zum Ende dieser Frage erhöht Erdal die Lautstärke nochmals erheblich.
Götzl interveniert wieder, diesmal ebenfalls sehr laut und mit donnernder Stimme: „Herr Anwalt! Ich ermahne Sie hiermit: Nehmen Sie sich im Ton zurück und fragen Sie sachlich!“
Trotzdem wird Götzl wieder ignoriert. Wilfling antwortet nun ebenfalls mit deutlich erhöhter Lautstärke: „Wir sind nicht auf dem rechten Auge blind.“
RA Erdal hakt in gleicher Lautstärke und äußerst gereizt nach: „Warum? Warum haben Sie nicht in diese Richtung ermittelt?“
Wieder schaltet sich Götzl ein, noch lauter und äußerst aggressiv: „Herr Anwalt! Ich ermahne Sie hiermit nochmals! Sie bringen hier eine Unsachlichkeit in die Verhandlung ein!“
Erdal richtet seine Erwiderung lautstark direkt an Götzl: „Dieser Zeuge hantiert hier mit Halbwahrheiten.“
Angeordnete Pause wegen Unsachlichkeit, oder wegen gefährlichen Fragen?
Götzl ermahnt Erdal nochmals in unverminderter Lautstärke: „Ich ermahne Sie hiermit nochmals wegen Unsachlichkeit ihrer Fragestellung. Sie sollten keine Antworten unterstellen, die nicht gefallen sind. Wir machen jetzt 5 Minuten Pause, damit Sie sich beruhigen und sich überlegen können, was Sie eigentlich fragen wollten.“
Götzl verlässt unmittelbar nach seiner Anordnung den Gerichtssaal, um eine weitere Diskussion gleich im Keim zu ersticken. RA Erdal wirft seine Robe höchst erregt auf den Boden und verlässt beinahe im Laufschritt und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ebenfalls den Saal. Die meisten anderen Prozessbeteiligten bleiben wie versteinert fassungslos auf ihren Plätzen. Erst nach einiger Zeit scheinen die Verteidigung, die Bundesanwaltschaft und die Nebenklage langsam zu realisieren, was sich soeben im Gerichtssaal ereignet hat. Nur der Mitangeklagte Andrè E. und Wohlleben-Verteidigerin RAin Schneiders scheinen unbeeindruckt und unterhalten sich während der Pause in freundschaftlicher Atmosphäre.
Tatsachenbericht vs. offizieller Pressebericht
Hier zum Vergleich die Berichterstattung dieses wichtigen Prozessbestandteils einiger zufällig ausgewählter etablierter Medien:
Zitat Sueddeutsche Zeitung Online 11. Juli 2013:
Wieso man nur im türkischen Milieu, nicht aber in der rechten Szene ermittelt hatte? Ob der Polizist noch nie von Mölln gehört habe? […] Die Wortgefechte werden immer hitziger. Ein Anwalt der Nebenklage wirft Wilfling nun „Halbwahrheiten“ vor. „Es ist kein Geheimnis, dass es in Deutschland auch kranke Menschen gibt, die sich als Neonazis bezeichnen“, sagt er wütend. Ein wenig bekommt man das Gefühl, mit Wilfling sitze nicht ein Zeuge, sondern ein weiterer Angeklagter in München vor Gericht. Schließlich unterbricht der Vorsitzende Richter den Prozess – „jetzt machen wir mal fünf Minuten Pause, jetzt regen Sie sich bitte ab“, sagt Manfred Götzl zum Anwalt der Nebenklage.
Am Donnerstag gerieten der Vorsitzende des Staatsschutzsenats und ein Nebenklageanwalt aneinander, der sich darüber erboste, dass die Polizei nicht mit der gebotenen Sorgfalt rechtsextremistischen Motiven nachgegangen sei. Die Hauptverhandlung wurde kurz unterbrochen, mit der unfreundlichen Aufforderung an den Anwalt, er möge sich abregen. Es dürfte nicht das letzte Mal gewesen sein, dass die zeitliche Dissonanz, dass 2001 nicht vor Augen stand, was 2013 glasklar zu sein scheint, die Emotionen im Prozess schürte.
Der frühere Polizeibeamte trägt die meiste Zeit sehr nüchtern und sachlich vor. Ein Vertreter der Nebenklage bringt dann aber eine spürbare Schärfe in den Gerichtsaal. Er wirft Josef W. lautstark vor, die rechtsextremen Hintergründe der Tat nicht ausreichend geprüft zu haben. „Warum haben Sie nicht in diese Richtung ermittelt?“, ruft der Rechtsanwalt.
„Wir sind keine, die auf dem rechten Auge blind sind“, entgegnet der langjährige Mordermittler und rechtfertigt die Tatsache, dass die Polizei Verbindungen zum Drogenmilieu und zur organisierten Kriminalität prüfte. „Jetzt soll man mal bitte nicht so tun, als ob es keine türkische Drogenmafia gibt.“
Es ist der Moment, in dem sich der Vorsitzende Richter Manfred Götzl zum Einschreiten gezwungen sieht. Er ermahnt den Rechtsanwalt der Nebenklage. Dieser möge sich gut überlegen, was er sage: „Jetzt regen Sie sich bitte ab.“
Die Aussagen regten den Nebenklage-Anwalt Adnan Erdal auf. Er vertritt einen Türken, der vom Nagelbombenanschlag des NSU in Köln betroffen war. In strengem Ton wollte Erdal von dem Zeugen wissen, ob er etwas von den Brandanschlägen auf Türken in Solingen und Mölln mitbekommen habe. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl unterbrach Erdal und fragte ihn, was Solingen und Mölln mit diesem Prozess zu tun hätten. Erdal wurde laut, Götzl auch. Der Richter ermahnte den Anwalt, zu einem sachlichen Ton zurückzukehren und unterbrach die Verhandlung. „Wir machen eine kurze Pause, dann regen Sie sich bitte ab!“ Nach der Pause verzichtete Erdal auf weitere Fragen an den einstigen Kriminaloberrat.
Regelrecht empört reagierte Adnan Menderes Erdal, ein Nebenklagevertreter, der schon des öfteren durch seine scharfen Fragen aufgefallen war. Er war es auch, der für seinen Mandanten beantragt hatte, das Kreuz im Gerichtssaal abzuhängen. […]
Das Kreuz hängt immer noch, und auch jetzt bekam Erdal von Richter Manfred Götzl eine strenge Ermahnung zu hören. Denn in ziemlich lautem Ton hatte dieser den Mordermittler gefragt, warum nicht in „Richtung rechts“ ermittelt worden sei. Wilfling wies das zurück. „Wir haben in jede erdenkbar Richtung geschaut, und wir sind auch auf dem rechten Auge nicht blind. Aber es gab keinerlei Anhaltspunkte.“ […]
Erdal legte nach, fragte Wilfling, ob er schon im Dienst gewesen sei, als in Solingen und in Mölln Anschläge auf Türken verübt wurden. „Es ist kein Geheimnis, dass es in diesem Land kranke Menschen gibt, die Neonazis sind und Böses tun“, wurde der Anwalt immer lauter. Da war es Götzl, der in diesem Prozess schon erstaunliche Langmut gezeigt hat, zu viel. „Ich sage es ganz deutlich, ich ermahne Sie. Nehmen Sie sich zurück, sonst bekommen Sie mit mir Probleme.“ Und damit sich Erdal „beruhigen“ und wieder zu sachlichem Ton zurückkehren konnte, unterbrach der Richter sogar die Sitzung.
Die Nebenkläger haben viele Fragen, die Bundesanwaltschaft – die Nachfragen zu Versäumnissen der Behörden überhaupt nicht schätzt – bittet darum, sich nicht zu verzetteln. Und der Vorsitzende Richter hat einen heftigen Disput mit einem türkischen Verteidiger, der eine tribunalartige Frage stellt. Emotional geht es so hoch her, wie seit Beginn des Prozesses nicht.
Zumindest Zeit-Online gibt den Vorfall ansatzweise, aber auch mit deutlich reduziertem Wahrheitsgehalt wieder:
Zitat Zeit Online vom 11. Juli 2013:
Zum Eklat kommt es, als Adnan Erdal das Fragerecht bekommt. Er schreit Wilfling regelrecht an, als er die Brandanschläge von Solingen und Mölln ins Spiel bringt, aber von Richter Götzl gestoppt wird: „Wir verhandeln hier in aller Ruhe. Sonst werden Sie mit mir Probleme bekommen.“ Wilfling kontert gelassen: „Wir alle hätten diese Serie gern geklärt. Wir sind keine, die auf dem rechten Auge blind sind“, gibt er dem Anwalt zurück.
Nach Abschluss der Vernehmung fordert Anwalt Stephan Lucas, in der Verhandlung müssten auch die vielen Ermittlungsfehler der Behörden besprochen werden. „Rehabilitierung kann nicht groß genug geschrieben werden“, sagt Lucas. Die NSU-Opfer hätten ein „postmortales Persönlichkeitsrecht“, daher müsse auch geklärt werden, wieso die Polizei so häufig etwa in Richtung Drogenmilieu ermittelte.
Der Stern Online vom 11. Juli 2013 erwähnt den Vorfall mit keiner Silbe. Nicht einmal im Ansatz erfährt der Leser davon irgend etwas. Quelle:>> Diese kleine Auswahl zeigt eindringlich, dass die Öffentlichkeit durch etablierte Medien nicht einmal ansatzweise umfassend über den NSU-Prozess informiert wird. Auf die Behauptung, dass einige dieser Artikel gezielt falsch informieren, verzichte ich aus naheliegenden Gründen.
Nach der Pause keine Fragen mehr von RA Erdal. Warum?
Die Pause endet ungewöhnlich pünktlich nach 5 Minuten. Alle sind anwesend nur RA Erdal fehlt noch. Mit etwa 2 Minuten Verspätung erscheint schließlich auch Erdal. Seine Verärgerung ist ihm deutlich anzusehen, er stellt keine Fragen mehr an Wilfling.
Götzl führt die Verhandlung fort, als wäre nichts geschehen.
Das Fragerecht hat nun RA Manthey, der die Witwe des ermordeten Habil Kiliç vertritt.
RA Manthey vertritt die Witwe des 2001 ermordeten Habil Kilic. – Foto: J. Pohl
Wie und ob sich überhaupt die Polizei um die Familie Kiliç nach dem Mord gekümmert habe, will Manthey von Wilfling wissen.
Wilfling antwortet noch deutlich unter dem Eindruck der vorherigen Ereignisse im Gerichtssaal: „Die Familie war oft und manchmal stundenlang bei mir im Büro. Wir hatten Probleme mit der Schwägerin, die offensichtlich kein Interesse an der Aufklärung der Tat hatte. Wir haben auch für einen Kontakt zwischen dem Weißen Ring und der Familie Kiliç gesorgt.“
Nun ist die Verteidigung mit der Befragung an der Reihe. Zschäpe-Verteidigerin RAin Sturm beginnt mit einer Frage zu dem am Tatort gefundenen Plastikschnipsel. Wilfling verweist sie an den Erkennungsdienst, er könne dazu keine sachdienlichen Hinweise geben. Er vermutet aber, dass das Beweisstück auf eine Plastiktüte hinweist, um die Patronenhülsen aufzufangen.
Der Alleswisser Zeuge D.
RAin Schneiders, Verteidigung Wohlleben, befragt Wilfling zur Vernehmung des weiteren Hinweisgebers D. Wilfling erklärt anschaulich, dass es sich bei D. um einen „amtsbekannten Hinweisgeber“ handelt, der zu allem immer alles gewusst habe. Trotzdem sei man den Hinweisen nachgegangen, alle hätten sich jedoch als nicht
Wohlleben-Verteidigung RA Nicole Schneiders – Foto: J. Pohl
tatrelevant erwiesen. „Wer den Herrn D. als Freund hat, der braucht keine Feinde mehr“, fügt Wilfling hinzu. Trotzdem hält Schneiders Wilfling eine Aussage von D. vor, nachdem es im Großmarkt München Gerüchte über eine größere Heroinlieferung gegeben hätte. Kiliç hätte mit dieser Lieferung etwas zu tun gehabt, beharrt Schneiders auf diese Aussage. Wilfling wiederholt, dass man den Zeugen D. mit Vorsicht genießen muss. Den Hinweisen sei man nachgegangen, sie hätten sich jedoch als falsch erwiesen. „Wenn eine Zeugenaussage nicht stimmt, dann kann es auch kein Ermittlungsergebnis dazu geben“ fügt Wilfling dazu.
RA Klemke, ebenfalls Verteidigung Wohlleben, will wissen, ob auch Hinweisen zu Milli Görüş nachgegangen wurde.
„Auch zu Milli Görüş fanden sich Hinweise. Kiliç hatte jedoch zu keiner dieser Organisationen Kontakt.“
Ein weiterer Anwalt der Nebenklage fragt, ob damals Handydaten ausgewertet wurden. „Damals nicht“, antwortet Wilfling.
Damit ist die Vernehmung von Josef Wilfling um 12:10 Uhr beendet.
Eine Erklärung zum richtigen Zeitpunkt. Aber ohne Interesse der Presse.
Nachdem Wilfling den Saal verlassen hat, bittet RA Lucas Richter Götzl eine Erklärung nach § 257 StPO abgeben zu dürfen.
Götzl erlaubt Lucas die Erklärung vorzutragen.
RA Lucas: „Ich muss vorausschicken, dass diese Erklärung von uns – RA Lucas und RA Rabe – als Vertreter der Nebenklage Şimşek in Abstimmung mit RA Daimagüler als Vertreter der Nebenklage Yaşar erfolgt.“
Die Erklärung von RA Lucas sinngemäß wiedergegeben:
„Im Rahmen der Hauptverhandlung muss festgestellt werden, ob die Polizei zu einem kriminellen Hintergrund der Opfer festhält. Es geht hier um die Frage der Opferauswahl. Die heute abgegebene Erklärung des GBA Diemer greift hier zu kurz. Es geht uns hier ausdrücklich nicht darum, einen neuen Untersuchungsausschuss einzuberufen, jedoch muss in der Hauptverhandlung ermittelt werden, warum gemordet wurde. Deswegen muss jede Spur auch zur Sprache kommen. Der Strafprozess muss auch das postmortale Persönlichkeitsrecht schützen. Die Familie Şimşek hat sich jahrelang massiven Vorwürfen und Verdächtigungen stellen müssen. Die Rehabilitation der Opfer kann in diesem Zusammenhang nicht groß genug geschrieben werden. Es würde der Bundesanwaltschaft gut zu Gesicht stehen, dass Fragen, die zu Ermittlungspannen führen nicht abgeblockt werden. Ich appelliere an die Vertreter des Generalbundesanwalts diese Diskussion nicht bei jeder Gelegenheit neu zu entfachen. Es geht hier in der Hauptverhandlung auch darum, die Zusammenhänge zu verstehen.“
Nebenklage Anwälte RA Rabe und RA Lucas – Foto J. Pohl
Anmerkung des Autors:
Nach dem Ende des 22. Prozesstags habe ich vor dem Gericht ein Gespräch mit RA Lucas und RA Rabe geführt und habe die beiden gefragt, ob die oben stehende Erklärung als Text online verfügbar wäre. „Leider nicht, wir haben die Erklärung ganz spontan im Anschluss an den Streit zwischen RA Erdal, Richter Götzl und dem Zeugen Wilfling formuliert. Sie können die Erklärung aber gerne auf der Basis ihrer handschriftlichen Aufzeichnungen in Ihrem Blog veröffentlichen, wenn Sie den Text als ’sinngemäß wiedergegeben‘ kennzeichnen.“ Auf die Frage, ob ich den Text vor der Veröffentlichung zur Freigabe erst einmal vorlegen sollte, antwortete Lucas: „Wir vertrauen ihnen!“
Für dieses Vertrauen möchte ich mich hiermit ausdrücklich bedanken und hoffe, dass ich die Erklärung richtig wiedergeben konnte. Außerdem ist an dieser Stelle ein Dankeschön an die Rechtsanwälte Lucas, Rabe, Daimagüler und Scharmer fällig, die mit ihren Erklärungen zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Worte gewählt haben.
Anschließend verliest auch RA Scharmer eine Erklärung:
„Fragen zu Ermittlungen müssen gestellt werden dürfen. Es muss geklärt werden, ob Ermittlungsfehler zu Morden geführt haben könnten, oder ob Morde durch korrekte Ermittlungen hätten verhindert werden können. Diese Fragen sind auch für die Klärung der Schuldfrage relevant.“
Götzl ruft nach Abgabe der Erklärungen um 12:15 zur Mittagspause bis 13:30 auf.
Diemer kompromisslos, taktlos und prinzipientreu.
Um 13:35 beginnt der Verhandlungsnachmittag mit einer Erwiderung von GBA Diemer auf die Erklärungen der Nebenklage:
„Wir müssen Fragen immer dann beanstanden, wenn sie nicht zum aktuellen Fall gehören. Ehemalige Ermittlungsfehler haben keine Bedeutung. Ob und weshalb durch Pannen Straftaten verhindert werden können, gehören nicht in die Hauptverhandlung. Wir können uns nicht leisten, den Prozess mit Fragen zu verzögern, die nicht auf die Schuld der Angeklagten zielen. Wir werden diese Fragen weiter beanstanden.“
RA Rabe erwidert direkt auf die Erklärung Diemers: „Alte Ermittlungsansätze, die eventuell noch valide sind, müssen Gegenstand der Hauptverhandlung sein.“